sans phrase - Zeitschrift für Ideologiekritik

Heft 13, Herbst 2018

Diskussion: Selbstzerstörung des Westens oder Untergang des Abendlandes? Gespräch zwischen Thomas von der Osten-Sacken, Florian Markl und Gerhard Scheit

Thomas von der Osten-Sacken: So offen jedenfalls wie derzeit auch die Bundesregierung mit dem Iran kollaboriert, ohne zumindest verbal ein wenig die Menschenrechte zu thematisieren oder zumindest noch zu erwähnen, dass sie die Vernichtungsdrohungen gegen Israel nicht erfreulich findet, hat sie das früher nicht getan, da setzte man offiziell auf Wandel durch Dialog. Selbst davon ist heute nicht mehr die Rede.
Und natürlich nehmen die Menschen das im Nahen Osten wahr, nicht nur in Kurdistan. Bis heute unterschätzt man hierzulande völlig was die „Liberation-Policy“ eines George W. Bush für Schockwellen in der Region ausgelöst hat. Ohne den Sturz Saddams wäre es vermutlich so weder zu den Massenprotesten im Iran, noch zum so genannten arabischen Frühling gekommen. Zuvor galt bei allen US-Administrationen das Paradigma der „Stabilität“, auf das sich ja Heiko Maas verrückterweise jetzt auch ständig beruft: Jeder Herrscher, der in seinem Land, egal wie, für Ruhe und Ordnung sorgte und ein einigermaßen pragmatisches Verhältnis zu den USA und Europa unterhielt, konnte eigentlich alles tun, was er wollte. Dann kam dieses Intermezzo und plötzlich wurde von Demokratie, regime change, Rechtsstaat, Föderalismus und Freiheit geredet und die USA schienen es auch noch ernst zu meinen. Natürlich, auch wenn es oft ganz anders zum Ausdruck kam, glaubten viele Menschen nach 2003 daran. Sie glaubten, dass sie auch in ihren Ländern unterstützt würden. Egal ob in Libyen, Syrien, Kurdistan oder dem Jemen. Und es hat Jahre gedauert, bis sie verstanden, dass die Vorzeichen amerikanischer Außenpolitik sich grundlegend verändert hatten. Heute fühlen sie sich deshalb verraten. Natürlich sind viele auch dem Glauben aufgesessen, dass die Amerikaner so omnipotent seien, wie es die panarabische und auch islamistische Negativpropaganda ihnen über Jahrzehnte eingetrichtert hatte. Aber die Entwicklungen gaben ihnen ja Recht, die Unterstützung kam nicht. Und Europa? Nun, in diesem Zusammenhang erscheint es nicht als Einheit. Frankreich und England wird getrennt etwa von Deutschland wahrgenommen. Ansonsten spielen europäische Staaten, immerhin noch vor siebzig Jahren Mandatsmächte, im allgemeinen Bewusstsein kaum eine Rolle außer als mögliches Fluchtziel.

Gerhard Scheit: Primat der Außenpolitik und Gegenidentifikation. Ein imaginäres Gespräch (mit realen Fußnoten)

Die Identifikation mit der AfD oder der FPÖ, deren Aufstieg mit der Flüchtlingskrise der letzten Jahre erfolgte, kann solchermaßen keine Gegenidentifikation in der beschriebenen Bedeutung sein, insofern sich die rechtspopulistische Propaganda nicht nur gegen den Weltmarkt richtet, sondern zugleich gegen die hegemoniale Macht der USA; im besten Fall ist diese ihr gleichgültig wie jede außenpolitische Frage. (Darum ist es so unbeschreiblich dumm und grob fahrlässig, die AfD als die einzige konsequent israelsolidarische Partei zu bezeichnen; Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn eine solche Partei im Bundestag säße.) Der Grund, der in dieser Identifikation sichtbar wird, ist keiner, sondern Apotheose der nationalen Organisation von Arbeit oder anders gesagt: Wahn der Autarkie oder mit Fichte gesprochen: der geschlossene Handelsstaat. In diesem Sinn fordert Björn Höcke eine „raumorientierte“ Wirtschaftspolitik beziehungsweise „wirtschaftssouveräne Staaten“, und möchte nur allzu gerne mit dem „Investitionsverbot raumfremden Kapitals“ und dem „Migrationsverbot raumfremder Bevölkerungen“ an Carl Schmitts „Interventionsverbot raumfremder Mächte“ von 1939 anknüpfen. Vorbereitet wird diese Möchtegern-Katastrophenwirtschaftspolitik durch eine Art Verklärung des Rechtsstaats , die darauf beruht, ihn isoliert zu betrachten, wie um zu verdrängen, dass es diese vielen schönen Rechtsstaaten nicht mehr geben würde und weiter geben kann, ohne eine gleichfalls rechtsstaatlich verfasste, hegemoniale und das heißt eben: bis an die Zähne bewaffnete Macht. Deren Hegemonie resultiert aus ihrer beherrschenden Stellung auf dem Weltmarkt, gegen die der Wahn der Großräume sich zu erheben sucht. (Dieser Zusammenhang deutet sich im Übrigen schon bei Fichte selber an…: Er bezeichnet seine Schrift im Untertitel eben nicht umsonst als „Anhang der Rechtslehre“.)

Christian Thalmaier: Eros und Identifikation. Reflexionen zum Begriff der Gegenidentifikation

Der explizite Bezug auf die Psychoanalyse legt es nahe, sich den kontradiktorischen Begriff der Identifikation als zentrales Moment bei der Lösung des Ödipuskomplexes durch eine die Kastrationsgefahr abwehrende Identifikation des Knaben mit dem bedrohlichen Vater zu vergegenwärtigen. Materialistische Kritik bewahrt dieses gewissermaßen anthropologische Moment einer ersten Identifikation mit dem ersten Aggressor auf, zeigt aber ihren ideologischen Überschuss in der Identifikation mit allem, was der Vater jenseits von Schutz und Sorge repräsentiert und exekutiert, also mit der Abstammungslinie, dann mit Staat, Volk und Nation und schließlich mit dem zum Opfer bereiten und gewillten Soldaten. Diese überschießende Identifikation will Gegenidentifikation durch Reflexion auf den produktiven Grund stillstellen.
Was aber bleibt dann im gegenidentifikatorischen Selbstvollzug der „gesamten Person“ des Kritikers übrig, das Gegenidentifikation genannt werden könnte? Ist die Aufforderung zur Gegenidentifikation dann mehr als die durch Provokation intensivierte zur Reflexion und zum Nachvollzug des politischen Urteils? Oder entspricht in der Gegenidentifikation doch auch etwas jenem vorideologischen Moment der Identifikation, das in der Psychoanalyse thematisch wurde?

Gespräch: Die Zerstörung des Staates mit den Mitteln des Marxismus-Agnolismus. Johannes Agnoli im Gespräch mit Joachim Bruhn

Johannes Agnoli: Mein Zugang zu Marx war, um darauf zurückzukommen, kein intellektueller. Hinter diesem Zugang stand schon eine gewisse Lebenserfahrung. Ich war damals immer wieder über meine Studienkollegen verblüfft. Erstens waren sie alle jünger als ich, zweitens hatte ich Krieg, Gefangenschaft und die Erfahrung der Fabrikarbeit hinter mir. Ich hatte immer den Eindruck, dass sie keine Lebenserfahrung hatten. Ihr Leben war ohne Umwege verlaufen: Abitur, dann das Studium. Meine Kommilitonen, das waren ganz sympathische, hochgescheite Leute, aber für mich hatten sie einfach keine Lebenserfahrung. Ich war nur durch Zufall an die Universität gekommen.
Ich arbeitete in dieser Fabrik, im Trockenraum für die Bretter, als auf einmal meine Hauswirtin hineinstürzte und mir sagte, eine Postkarte sei von der Uni gekommen, ich wäre zum Studium zugelassen worden. Das war wirklich reiner Zufall, weil ich mich schon vergebens beworben hatte, nachdem endlich meine Papiere aus Italien gekommen waren.
Nun gut, so kam ich zu Spranger und wollte als Erstsemester gleich sein Hauptseminar besuchen. Ich legitimierte das mit meiner Erfahrung in der Kriegsgefangenschaft, wo ich im Auftrag des britischen Militärs Unterricht in Geschichte und Philosophie gehalten hatte. Er examinierte mich daraufhin, und weil ich alles wusste, wurde ich zum Hauptseminar zugelassen.

Joachim Bruhn: Das organisierte Nein

In alle Zukunft werden wir Johannes Agnoli nun vermissen müssen, seinen Charme, seine revolutionäre Geduld und machiavellische Ironie, die Weise, wie er das organisierte Nein sagte. Wie sein früh verstorbener Genosse Peter Brückner ist er ein Partisanenprofessor gewesen im Lande der Mitläufer, einer, den man jetzt zur Revanche aus den Verzeichnissen des Herrschaftswissens streichen wird, ein Betriebsunfall und einer, der, wie die >Frankfurter Allgemeine< einmal gutachtete, „am Bedarf vorbei“ geschrieben, gedacht, gelehrt und gelebt hat: einer, der am besten nie gewesen wäre. Was Herrschaft als überflüssig befindet, das macht den Begriff der Subversion eben aus: Johannes Agnoli hat den Antagonismus gedacht und die Revolution, nicht, um daraus eine subversive Theorie zu verfertigen, sondern zum Zweck der kategorischen Kritik. Tante Grazie.

Manfred Dahlmann: Der Kommunismus ist wichtig, aber Osso Buco ist auch nicht ohne

Staatsfeind auf dem Lehrstuhl hat man ihn genannt. Johannes Agnoli hat nicht widersprochen und der Staat hat ihn dennoch nicht aus seinem Amt entfernt. Anders verhält es sich mit den ehemaligen Berufsrevolutionären von 1968. Auch sie wurden nicht entlassen, aber eben Staatsfeinde wollten sie sehr schnell nicht mehr sein. Typisch für Johannes Agnoli, wie er, als diese Revolutionäre so herzergreifend darüber jammerten, dass der Staat sie nicht Lehrer und Briefträger werden lassen wollte, ihnen mit auf den Weg gab, dass es ein reichlich merkwürdiges Verhalten ist, den Staat darum anzubetteln, dafür bezahlt zu werden, dass man ihn besser bekämpfen kann.

Stephan Grigat: Denker der Subversion. Agnolis (Post-)Faschismuskritik und die repräsentative Demokratie

Es gilt, den Unterschied zu betonen, der zwischen einer auf einen Verein freier Menschen abzielenden Staats- und Demokratiekritik und faschistischer Verachtung für Parlament, Gewaltenteilung und gesellschaftlicher Vermittlung besteht. Agnoli hat die im Verfassungsstaat in aller Regel garantierten Freiheitsrechte nach dem Zweiten Weltkrieg stets hochgehalten und nicht zuletzt gegen die stalinistischen Teile der Linken in der Bundesrepublik verteidigt. Er stellt sich mit seinem Beklagen des Souveränitätsverlustes ‚des Volkes‘ nicht in die Tradition von Carl Schmitt, die in der autoritär konzipierten ‚direktdemokratischen‘ Rhetorik in und im Umfeld der AfD und ähnlicher Parteien heute auf die politische Bühne zurückkehrt, sondern in jene des radikaldemokratischen jungen Marx. Möglich wird das jedoch nur durch die weitgehende Ignoranz Agnolis gegenüber den geschichtsphilosophischen und revolutionstheoretischen Implikationen des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs, die in einem auffälligen Widerspruch zu seinen Ausführungen über das Fortwesen faschistischer Krisenlösungsmodelle steht.

Wolfgang Pohrt: Lebensschutz und Nationalpolitik. Motive, Ziele und Geschichtsbild der Ökologie- und Friedensbewegung

Das Mindeste, was sich nun gegen den Begriff „Lebensschutz“ einwenden ließe, ist, daß die programmatische Erklärung, das Leben schützen zu wollen, stets und unter allen Umständen eine dreiste Lüge ist: man kann das Leben von Menschen nicht schützen, ohne beispielsweise dasjenige von Pockenviren zu vernichten. Auch ist das Leben in seiner abstrakten Allgemeinheit und Gesamtheit keineswegs bedroht und würde in Gestalt von Einzellern, Insekten oder Ratten und Tiefseefischen sogar beliebig viele Atomkriege unbeschadet überstehen. So schwingt in jeder mystisch gefärbten Achtung vor dem Leben überhaupt und ganz allgemein die nur zu gut begründete Weigerung mit, offen zu erklären, um wessen Leben es sich dreht. Der „Lebensschutz“ hält sich gewissermaßen sämtliche Optionen offen und behält es einem späteren Zeitpunkt vor, die ganz plausibel aus ihm abzuleitende Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben willkürlich und in eigener Machtvollkommenheit zu treffen. Der von jedem konkreten Vorstellungsgehalt gereinigte Lebensbegriff ist tatsächlich der leere Sack, der nur darauf wartet, von jenen „mit Inhalt gefüllt“ zu werden, wie es in der akademischen Amtssprache heißt, welche die definitorische, und das heißt: politische und praktische Macht dazu haben. Lebensschutz impliziert das Recht des Lebensschützers, willkürlich nach eigenem Gutdünken und eigenem Interesse darüber zu befinden, wen er töten darf.

Gespräch: »Die Leute sagen mir, was sie denken, und ich sage ihnen, warum das falsch ist«. David Hellbrück im Gespräch mit dem Verleger Klaus Bittermann über Wolfgang Pohrt

Klaus Bittermann: Hat man einen Blick aufs Gesamtwerk, kann man vier Abschnitte erkennen. Den Pohrt aus den 1970ern, als er die Theorie des Gebrauchswerts schrieb und an der Uni in Lüneburg arbeitete mit den Seminarthemen über Jugendsoziologie, Émile Durkheim, über die „Aktualität des Faschismus“, Marx-Kontroversen. Parallel fing er an, an der Hochschule kleine Satiren und Pamphlete zu verfassen, das war auch die Zeit, als er die ersten Schubladentexte schrieb, die dann 1980 in seinem zweiten Buch Ausverkauf erschienen. 1980 hörte er mit seinem Job in Lüneburg auf, obwohl er gute Chancen auf einen Lehrstuhl hatte. Es begann seine Zeit als Kultur- und Ideologiekritiker, als er kurzfristige Berühmtheit erlangte. Das ging bis 1989, bis zum Einzug der Republikaner in den Berliner Senat. Im Vorwort zu Ein Hauch von Nerz begründete er, warum es in einer solchen Zeit nicht mehr ausreicht, den Betrieb mit brillanten Kritiken zu bereichern. Kurz danach öffnete die DDR ihre Grenzen und die Wiedervereinigung nahm ihren Lauf. In der dritten Phase erstellte er als Einmannuntersuchungsgruppe eine ganze Studie mit einem riesigen statistischen Aufwand und Fragebögen, die er an Verwandte und Bekannte schickte und die mir nicht sonderlich repräsentativ erschienen. Aber wie Pohrt selbst einmal irgendwo erwähnt hat, kennt man die Ergebnisse der Untersuchung, die man anstellt, in der Regel schon vorher, und es gehört ja auch zum modernen Mythos, wenn man so tut, als wüsste man nicht, worauf die Studie hinausläuft. Danach wurde er quasi der politische Chefkommentator von Konkret, und aus diesen Arbeiten entstanden Das Jahr danach und Harte Zeiten. Damit war Schluss, als Konkret 1993 einen umstrittenen Vortrag von Christoph Türcke auf dem Konkret-Kongress abdruckte, um „eine Versachlichung der andauernden Debatte zu ermöglichen“. Die Frage, die sich Türcke gestellt hatte: „Gibt es ein biologisches Substrat, das es gestattet, Menschenrassen in nichtdiskriminierender Absicht zu unterscheiden?“, war der Anlass für Pohrt, seine Mitarbeit bei Konkret zunächst einzustellen. Dann gab es eine fast zehnjährige Pause, in der er nur noch sporadisch veröffentlichte, bevor dann 2003 vom >Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus< eine Podiumsdiskussion mit Broder in Berlin organisiert wurde. Ein Desaster, wie Pohrt das selbst einschätzte. Es dauerte dann weitere fünf Jahre, bis er sich mit Kapitalismus Forever und Das allerletzte Gefecht zum letzten Mal zu Wort meldete.

Danyal Casar: Ein »Akt europäischer Souveränität«. Notizen zur Kumpanei mit der khomeinistischen Despotie und der Türkei der Grünen Wölfe

Die Türkei wälzte das säkulare Afrin zu einem Pseudo-Emirat um, in dem einzig die Entführungsindustrie und die Produktion von Snuff-Filmen floriert und islamistische Warlords als Pseudo-Emire um die Beute rivalisieren. Die ezidischen Gemeinden in Afrin sind verwaist. Auf der Straße herrscht für Frauen die Zwangsverschleierung, wo zuvor die Befreiung der Frauen als einer der zentralen Grundpfeiler des föderalen Gemeinwesens ausgerufen wurde. Während die Türkei den Nordwesten Syriens unter ihr Diktat zwingt, werden syrische Kurden aus Afrin vor türkische Gerichte gezerrt und der „Zerstörung der Einheit des türkischen Staates“ beschuldigt. Doch anders als die „Causa Özil“, die zur Sinnkrise deutscher Integrationspolitik wurde, provozierten die Bilder deutscher Panzergefährten mit türkischer Besatzung, die mit Wolfsgruß und Seite an Seite mit islamistischen Mordbrennern in Afrin einrollten, keine deutschen Befindlichkeiten.

Günther Anders/Karl Löwith: »… in der denkbar unangemessensten Attitude«. Günther Anders und Karl Löwith – eine Rezensions-Affäre

Lieber Herr Stern,
Vielen Dank für Ihren Brief von Mitte Dezember. … In den Sommerferien und Herbst, die durch Krankheiten unterbrochen waren – die 50er Jahre sind ein schlechtes Alter für beide Geschlechter – schrieb ich endlich eine längst geplante Abhandlung über Heidegger, deren I. Teil in diesen Tagen in der „Neuen Rundschau“ (Frankfurt) erschienen sein dürfte. Der II. Teil (über Heideggers Geschichtsbegriff) soll im nächsten Heft folgen. Mit Rücksicht auf meine künftige akademische Tätigkeit in Heidelberg, wo die begabten Studenten auch eher verheideggert sind, so wie man einst verhegelt war, hielt ich mich dabei innerhalb des akademischen Tons, wenn auch nicht Jargons. Unheimlich ist und bleibt dieser kleine große Mann und da sonst niemand da ist, ist seine Wirkung allbeherrschend. Vor 1 Jahr etwa schrieben Sie mal vom Wiener Opernleben und dass die […] das hohe Cis halte – sie tut es nun mit großem Erfolg an der Metropolitan in New York. Ist es nicht allzu deprimierend, in dem verendenden Wien zu leben? Also pflegen Sie sich so gut als möglich und kommen Sie in das hübsche Alpbach mit Ihrer Frau.
Herzliche Grüße von uns beiden Ihr Karl Löwith

Lieber Herr Löwith:
Ich hatte gerade diesen Bogen eingespannt, als mir meine Frau die „Neue Ztg.“ mit dem Teilabdruck Ihres Rundschauaufsatzes brachte (Über Heidegger’s Sprache.) Wie sehr ich mit dieser Kritik einverstanden bin, wissen Sie ja. Dass H. viele der Schätze, die er aus dem Brunnen der deutschen Sprache herausfischt, Tags zuvor selbst hineingeworfen hatte, hatte ich auch schon immer vermutet. Oft kommt er mir vor wie ein Archäologe, der sich durch Ausgrabung selbst hergestellter und selbst eingebuddelter „Frühwerke“ mehr oder minder bona fide selbst betrügt. Unbegreiflich dieses Insistieren auf der „Wahrheit“ der deutschen Sprache – was daraus spricht, ist heute, im Zeitalter der Weltweite und der Kulturvergleichung, nicht einfach ein philosophisches Missverständnis, sondern bäurische Halsstarrigkeit … er wird dadurch zu einem Heimatdichter des Absoluten, zu einer durch und durch vorhegelischen Figur, denn eine Einzelsprache ist ja im besten Falle nur eine Facette des Weltauges, im schlechtesten Falle einfach kontingent. Was Plato im Philebus vielleicht noch hatte tun dürfen, ist heute schlechthin komisch. – Zugleich ist natürlich seine Überzeugung, dass die Frühphase der Sprache (jede Frühphase überhaupt) „offenbart“ – eine säkularisierte Offenbarungstheologie – die folgende Sprachgeschichte läuft dann eben einfach auf eine Verkümmerungschronik heraus. Wie schrecklich abhängig … polemisch abhängig … er doch vom Fortschrittsbegriff ist! Und wie ungeheuer gut, philosophisch gut, uns allen das Reisen getan hat. Der Philosoph ist eben nicht nur ein Bergwerker, sondern auch ein Seefahrer und von keinem Typus ist Heidegger so weit entfernt wie von diesem. Schon 1924 hatte ich mit ihm darüber ein erbittertes Gespräch; in der Erinnerung scheint es mir, als sei er damals wütend darüber gewesen, statt Wurzeln Füße zu haben. …
Nun noch einmal unsere Glückwünsche! Gute Reise und guten Beginn!
Mit herzlichen Grüßen, auch an Ihre Gattin, auch von meiner Frau,
Ihr [Günther Anders]

Günther Anders: Löwith-Besprechung (1942). Erstveröffentlichung

Auf diese Marxdarstellung Löwiths wollen wir näher eingehen. Denn sie ist, trotz der Neutralität seiner eigenen Position, trotz der Reakademisierung antiakademischer Tendenzen, vorzüglich. Das gilt insbesondere von der Darstellung des Verhältnisses des jungen Marx zu Hegel, das über die üblichen Darstellungen des Abhängigkeitsverhältnisses weit hinausgeht. (Der Marx des „Kapital“ ist ohnehin von Löwith nur beiläufig behandelt.) Nach Löwith besteht Marxens Abhängigkeit von Hegel in weit mehr als der „Übernahme“ der Dialektik, nämlich in der Anerkennung und Übernahme des Hegelschen „Ideals“ (wenn dieser Ausdruck der „Unversöhntheit“ für den Versöhner Hegel benutzt werden darf). Dieses „Ideal“ besagt: Der Mensch, dessen Natur in „Vermittelung“ oder Entäußerung oder Arbeit bestehe, solle dieser seiner Entäußerung gewachsen sein (was bei Hegel das „an und für sich Sein“ bedeutet); der gesellschaftlich existierende Mensch soll die von ihm selbst erzeugte Welt (und damit sich selbst) in seiner Gewalt behalten; er solle – politisch – die „substantielle Einheit“ (polis) und die „subjektive Einzelheit“ (Christenmensch) zugleich sein. Freilich behauptet Hegel, außer in der Frühzeit seiner „Jenenser Realphilosophie“, dass diese Einheit oder Einheiten in der modernen Ökonomie und in den modernen Staaten faktisch realisiert seien. Um mit der Wirklichkeit versöhnt sein zu können, projiziert er das Ideal in sie zurück; um was wirklich ist, vernünftig zu finden, behauptet er, das Vernünftige sei wirklich. Der junge Marx zerreißt die Gültigkeit dieser Behauptung, ohne die Gültigkeit des Ideals zu bestreiten. Was Hegel feststellt, will Marx herstellen. Diese Löwithsche Deutung des Verhältnisses Hegel – junger Marx ist ausgezeichnet und gibt uns die Einsicht, wie eng das Marxsche Unternehmen mit den Wurzeln der europäischen Moraltradition verknüpft ist.

Briefe: G. Anders, G. Fischer, M. Horkheimer, L. Löwenthal, A. Löwith, K. Löwith

Lieber Herr Stern,
Vielen Dank für Ihren Brief von Mitte Dezember. … In den Sommerferien und Herbst, die durch Krankheiten unterbrochen waren – die 50er Jahre sind ein schlechtes Alter für beide Geschlechter – schrieb ich endlich eine längst geplante Abhandlung über Heidegger, deren I. Teil in diesen Tagen in der „Neuen Rundschau“ (Frankfurt) erschienen sein dürfte. Der II. Teil (über Heideggers Geschichtsbegriff) soll im nächsten Heft folgen. Mit Rücksicht auf meine künftige akademische Tätigkeit in Heidelberg, wo die begabten Studenten auch eher verheideggert sind, so wie man einst verhegelt war, hielt ich mich dabei innerhalb des akademischen Tons, wenn auch nicht Jargons. Unheimlich ist und bleibt dieser kleine große Mann und da sonst niemand da ist, ist seine Wirkung allbeherrschend. Vor 1 Jahr etwa schrieben Sie mal vom Wiener Opernleben und dass die […] das hohe Cis halte – sie tut es nun mit großem Erfolg an der Metropolitan in New York. Ist es nicht allzu deprimierend, in dem verendenden Wien zu leben? Also pflegen Sie sich so gut als möglich und kommen Sie in das hübsche Alpbach mit Ihrer Frau.
Herzliche Grüße von uns beiden Ihr Karl Löwith

Lieber Herr Löwith:
Ich hatte gerade diesen Bogen eingespannt, als mir meine Frau die „Neue Ztg.“ mit dem Teilabdruck Ihres Rundschauaufsatzes brachte (Über Heidegger’s Sprache.) Wie sehr ich mit dieser Kritik einverstanden bin, wissen Sie ja. Dass H. viele der Schätze, die er aus dem Brunnen der deutschen Sprache herausfischt, Tags zuvor selbst hineingeworfen hatte, hatte ich auch schon immer vermutet. Oft kommt er mir vor wie ein Archäologe, der sich durch Ausgrabung selbst hergestellter und selbst eingebuddelter „Frühwerke“ mehr oder minder bona fide selbst betrügt. Unbegreiflich dieses Insistieren auf der „Wahrheit“ der deutschen Sprache – was daraus spricht, ist heute, im Zeitalter der Weltweite und der Kulturvergleichung, nicht einfach ein philosophisches Missverständnis, sondern bäurische Halsstarrigkeit … er wird dadurch zu einem Heimatdichter des Absoluten, zu einer durch und durch vorhegelischen Figur, denn eine Einzelsprache ist ja im besten Falle nur eine Facette des Weltauges, im schlechtesten Falle einfach kontingent. Was Plato im Philebus vielleicht noch hatte tun dürfen, ist heute schlechthin komisch. – Zugleich ist natürlich seine Überzeugung, dass die Frühphase der Sprache (jede Frühphase überhaupt) „offenbart“ – eine säkularisierte Offenbarungstheologie – die folgende Sprachgeschichte läuft dann eben einfach auf eine Verkümmerungschronik heraus. Wie schrecklich abhängig … polemisch abhängig … er doch vom Fortschrittsbegriff ist! Und wie ungeheuer gut, philosophisch gut, uns allen das Reisen getan hat. Der Philosoph ist eben nicht nur ein Bergwerker, sondern auch ein Seefahrer und von keinem Typus ist Heidegger so weit entfernt wie von diesem. Schon 1924 hatte ich mit ihm darüber ein erbittertes Gespräch; in der Erinnerung scheint es mir, als sei er damals wütend darüber gewesen, statt Wurzeln Füße zu haben. …
Nun noch einmal unsere Glückwünsche! Gute Reise und guten Beginn!
Mit herzlichen Grüßen, auch an Ihre Gattin, auch von meiner Frau,
Ihr [Günther Anders]

Mike Rottmann: »Über den Erdball getrieben …, hellhöriger als andere.« Über die Geschichte eines berühmten Buchs, Günther Anders’ Kritik und Karl Löwith als Briefschreiber

Karl Löwiths Korrespondenz, die zur Herausgabe einer dringend benötigen Ausgabe ausgewählter Briefe derzeit gesammelt wird, zeigt in weiten Teilen einen leidenschaftlichen, informierten Gesprächspartner. Löwiths Briefe an Günther Anders lassen eine Haltung erkennen, die sich in Solidarität und Interesse äußert, dabei weder tiefe Sympathie, gar Freundschaft oder auch nur die vage Nähe des philosophischen Standorts zur Voraussetzung hat. So unvermittelt der Auftakt der schriftlichen Korrespondenz, so abrupt und damit folgerichtig endet das Zwiegespräch zweier Zeitgenossen, die vieles gemein haben und in mehrfacher Hinsicht verschiedener nicht sein könnten. Die auf den ersten Blick zu konstatierenden Ähnlichkeiten – die bürgerliche Herkunft und das nur angedeutete Judentum, ferner das Freiburger Philosophiestudium und das amerikanische Exil – sollte über die Differenz der Lebens- und Philosophieentwürfe nicht hinwegtäuschen.

Friedhelm Kröll: »Funktionalismus heute« – Adorno revisited. Ein Vortrag

Für einen Wandkalender, schön gestaltet, böte sich zur Frage nach dem „Funktionalismus heute“ ein Satz Adornos als Spruch an:
„Was eine Funktion hat, ist ersetzlich; unersetzlich nur, was zu nichts taugt.“

Teresa Roelcke: Adornos musikalische Begriffe

Was in diesen Überlegungen zu thematisch-motivischer Arbeit nun deutlich werden sollte, ist Adornos Interesse an Musik als Prozess. Er spricht sogar von einer „Verpflichtung des Werdens“. Was in Musik als Sinn auftritt, entfaltet sich als Werdendes und lässt sich aus dem zeitlichen Verlauf nicht herauslösen. Die Frage nach den Einzelelementen ist auch nur deshalb interessant, weil sie es sind, die in diesem Prozess dasjenige darstellen, was in Bewegung versetzt und mit anderem in Verbindung gebracht wird. Ihre Bedeutung erlangen sie aber erst im spezifischen Kontext. Letztendlich ist es der konkrete Verlauf der Bewegung selbst, der den Ausdruck der Komposition ausmacht. Auf diese doppelschlächtige Eigenschaft der Einzelelemente – selbst nur aus dem Kontext Bedeutung zu erlangen, und dabei gleichzeitig das zu sein, was in einen Prozess gesetzt wird und damit für diesen trotzdem unverzichtbar ist – zielt Adorno, wenn er davon spricht, die Einzelelemente schössen über sich hinaus. Darin ist ein Grundmotiv seines dialektischen Denkens zu sehen. Die Konstellation, die zwischen den Materialelementen der Komposition entsteht, ist damit nicht als quasigeometrische, also statische interessant, sondern weil sie den dynamischen Prozess, in dem sich musikalischer Sinn entfaltet, fixiert und so einen Speicher der dialektischen Bewegung darstellt. Komplexe Reflexion, komplexe motivisch-thematische Arbeit also mit ihren „gelegentlich aufs diskreteste angedeuteten“ Motivgleichheiten und -variationen, setzt damit die Fixierung der Komposition durch Notation voraus, denn „die komplexen Verknüpfungsformen, durch welche die Sukzession inwendig als solche sich organisiert, wären improvisatorischem, schriftlosen Musizieren inadäquat.“ Wenn Musik einen spezifischen, selbstreflektierten Gehalt in sich tragen soll, wenn sie einen dynamischen Prozess im Moment ihrer Interpretation entfalten soll, dann ist sie auf die schriftliche Fixierung angewiesen. Damit kommt sie ohne ein Moment von Statik nicht aus. Sich innerhalb dieses Spannungsfeldes für eine Seite zu entscheiden, den Schein der Dynamik also entweder durch improvisierte Musik einerseits oder statische Musik andererseits aufzulösen, ist für Adorno nicht möglich. Erstere kann in vollständiger Dynamik letztendlich keinen Prozess mehr abbilden, da dieser gerade im komplexen Umgang mit Identität und Nichtidentität entsteht und nicht in willkürlicher Aneinanderreihung schon erwähnter „Tonhaufen“; ohne diesen Prozess aber endet sie wieder nur statisch.

Adrian Alban: Der Deserteur als Held. Zum Trauermarsch in Gustav Mahlers Fünfter Symphonie

Indem Mahler in diesem Trauermarsch vordergründig die formalen Forderungen der Gattung Trauermarsch erfüllt, ihren Ausdrucksgehalt aber unterläuft, kann sein Trauermarsch als eine Kritik an dieser Gattung und deren politischen Implikationen verstanden werden. Der Marschteil vertritt traditionell den pathetischen, heldenhaften Soldatentod für die Nation, der Trio-Teil den Trost, dass dieser Tod sinnvoll war. Anders aber Mahlers Trauermarsch: Der A Teil ist seltsam unheroisch: die Fanfare steht in Moll und bricht bald in sich zusammen. Der Marsch kommt nicht richtig in Bewegung, sie stockt. Das Marschthema ist nicht heroisch-pathetisch, sondern schwach, weinerlich, kreisend. Auch die Trios sind nicht tröstend. Die As-Dur-Episode des A-Teils verweist darauf, wie ein Trio, wie Trost aussehen könnte – ebenso wie das Liedzitat. Aber ein echtes Trio bleibt aus. Was bleibt ist das erste Trio (erster B Teil), das Gewalt, Angst, Panik, Raserei und Wildheit ausdrückt, und das zweite Trio (zweiter B Teil), das zwar anhebt wie ein Trio, sich mit seinem thematischen Material aber nicht etwa auf das vorangegangene Liedzitat aus „Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n“ bezieht. Ein solcher Bezug böte die Möglichkeit, dem Liedtext gleich, mit dem (falschen) Trost der Affirmation der Allgemeinheit zu enden; so zu tun „als sei die Nacht kein Unglück gescheh’n.“ Stattdessen ist das zweite Trio durchsetzt von thematischem Material des ersten Trios, trägt so dessen Gewalt in sich. Es wird nicht bewältigt oder aufgehoben und zu einem versöhnlichen Ende geführt, sondern gipfelt in dem dissonanten „Klagend“-Akkord. Auf Affirmation oder Trost wird verzichtet, Gewalt und Leid behalten das letzte Wort, Sinn bleibt aus. Was bleibt ist Klage angesichts des Leids. Der Trauermarsch in Mahlers Fünfter Symphonie erhebt Einspruch gegen die Gattungstradition mit ihrer Verklärung des Todes.

David Hellbrück: Josef K. in antisemitischer Gesellschaft. Über Franz Kafkas Process

Wahrscheinlich ist es Kafka nur dadurch möglich geworden, dass er von K. als Jude absieht. Dies mag im ersten Moment paradox klingen, erklärt sich aber dadurch, dass der Antisemitismus keineswegs an einzelnen Vorurteilen und Stereotypen festzumachen ist, sondern kapitalentsprungene Totalität ist. Und das ist Kafka wohl nur durch eine Kunst, die aufs Ganze zielt, wiederum möglich: „Darstellbar ist diese wirkliche Totalität aber nur – und das gehört zu den Geheimnissen der Kafkaschen Kunst, die sie dem Theologischen so naherücken – weil vollkommen von dem abstrahiert wird, was in Wahrheit die Individuen mit dem Staat identisch macht: vom nationalen Bewußtsein. Kafkas Individuen haben keine Nation, darum wird sichtbar, daß sie alle von einer unbekannten Macht besessen sind, ob sie es wollen oder nicht. Der nationale Wahn selbst wird nicht beschrieben, und nur so kann die ganze Gewalt, die er über die Menschen gewonnen hat, zur Sprache gebracht werden.“ Kafka schafft es somit, auf die Situation der Juden in antisemitischer Gesellschaft zu reflektieren, ohne von ihnen als solchen überhaupt zu schreiben und kann gleichsam Wahrheit über Gesellschaft aussprechen, die nach Max Horkheimer den Antisemitismus ins Zentrum zu stellen hätte: „So wahr es ist, daß man den Antisemitismus nur aus unserer Gesellschaft heraus verstehen kann, so wahr scheint mir auch zu werden, daß nun die Gesellschaft angemessen nur durch den Antisemitismus verstanden werden kann.“

Lars Fischer: »Die Furcht für den Jüden«. Über den Antijudaismus in Bachs geistlichen Kantaten und seine Verdrängung

Als diese Kantate im Juli 1925 beim Eröffnungskonzert des 13. Deutschen Bachfests in Essen aufgeführt wurde, schrieb der Musikologe Alfred Heuß im Programmheft, sie bilde „den Untergrund des Konzerts und damit des ganzen Festes“. Sie sei „eines jener Werke, das Bach als unerbittlichen alttestamentarischen Bußprediger voll harten Eifers zeigt“. „Bach schlägt hier zu wie mit einem Eisenhammer auf einen Felsen“, so Heuß, die Musik sei von einer „geradezu dämonische[n] Wildheit“ und „mit einer stahlharten Kunst durchgeführt“. Daran, dass all dies als Kompliment gemeint war, kann kein Zweifel bestehen. Dies ist umso faszinierender, als Heuß ein berüchtigter Antisemit war. Im Oktober des gleichen Jahres charakterisierte er Schönbergs Berufung an die Preußische Akademie der Künste als einen „Schlag gegen die Sache der deutschen Musik, wie er zurzeit herausfordernder kaum gedacht werden kann“. Man habe es, erklärte er, mit einer „Kraftprobe zwischen Deutschtum und – nun heißt es ... offen werden – spezifisch jüdischem Musikgeist“ zu tun. „Jeder, der in die Rassenunterschiede einen Einblick hat“, sei sich darüber im Klaren, dass der „Fanatismus“ des „wurzellose[n] Juden“ Schönberg „rassenmäßig bedingt“ sei. Es gebe zwar auch assimilierte Juden, die einen wertvollen Beitrag leisten könnten, doch „zu welcher Art Judentum Schönberg gehört und gehören will, das hat er nicht nur in aller Klarheit demonstriert, sondern auch ausgesprochen“. Seine Berufung werde „der deutschen Musik mindestens einige Jahrzehnte kosten ... weil eben, und zwar zum erstenmal in ihrer Geschichte, spezifisch jüdische Kräfte ihre Entwicklung in einer Zeit innerer Entkräftung in die Hand genommen haben“. Offenbar konnte ein- und derselbe Musikologe also durchaus den „harten Eifer“ des „unerbittlichen alttestamentarischen Bußpredigers“ Bach und die Werke „verwurzelter“ Juden bewundern und sich dennoch in einer antisemitischen Polemik gegen Schönberg ergehen – ein interessanter Hinweis auf die Komplikationen, die sich bei dem Versuch ergeben können, nichtjüdische Einstellungen dem Judentum, dem Alten Testament und den Juden gegenüber zu verstehen.

Renate Göllner: ›Muss eine böse Mutter wohnen‹? Versuch über Melanie Klein

Melanie Klein vorzuwerfen, sie habe die „vaterlose Gesellschaft“ – womit Alexander Mitscherlich diese Veränderungen auf den Begriff bringen wollte – ontologisiert, geht darum ebenso ins Leere, wie es auch falsch ist, sie als Theoretikerin des Matriarchats zu verstehen. Eher versuchte sie, jenen Entwicklungen entgegenzutreten, die die Position der Mutter umso mehr zu befestigen trachteten, als sie wahrnahm, wie sehr die des Vaters depotenziert wurde. Vor diesem Hintergrund hat sie Weiblichkeit und Männlichkeit als von Geburt an existierenden Gegensatz anthropologisiert, insofern sie gerade das gesellschaftliche Faktum der Kastrationsdrohung verdrängte. Doch genau davon wäre nicht zu abstrahieren, um so die Familie gegenüber dem ganzen System extrafamiliärer Einrichtungen verteidigen zu können, solange die Individualisierung in der Kindheit auf der Grundlage freier Assoziation Utopie bleiben muss.