sans phrase - Zeitschrift für Ideologiekritik

Heft 10, Frühjahr 2017

Leider vergriffen... steht aber hier als E-Book bereit.

Thomas von der Osten-Sacken: Wahn und Wirklichkeit: Der Blick auf den Nahen Osten. Ausschnitte aus einem Mena-Watch-Gespräch mit Florian Markl

In solchen Konflikten ernährt irgendwann der Krieg den Krieg wie es im Dreißigjährigen Krieg hieß. Das heißt, Syrien ist hochgradig fragmentiert. Es existiert niemand, der quasi von oben die Order geben kann: „Jetzt ist Frieden. Ab morgen schweigen die Waffen.“ … Man hat zugeschaut, wie staatliche Souveränität vollkommen ausgehöhlt wurde. Syrien ist heute zwar de facto noch irgendwo auf der Landkarte als Staat schraffiert, aber das reale Syrien ist ein Gebiet, in dem nur noch parastaatliche Souveränität ausgeübt wird. Und zwar nicht nur in den großen Teilen, also denen vom Regime, von den Rebellen, vom Islamischen Staat kontrollierten Gebieten. Inzwischen gibt es die syrische Armee als funktionsfähige Organisation ja auch nicht mehr.

Diskussion: Zwischen den Projektionen. Aus einer Diskussion über die USA und Donald Trump, 23. Februar 2017 (Marlene Gallner, Simon Gansinger, David Hellbrück, Florian Markl, Ljiljana Radonić, Gerhard Scheit)

Florian Markl: Also schon allein der Versuch, ein bisschen Rationalität in die Diskussion zu bringen, wird sofort als Trump-Apologetik dargestellt. Die Diskussion über Trump ist noch um einiges verrückter als Trump selbst. Und in Europa ist sie gepaart mit unglaublicher Heuchelei. In den USA gibt es immerhin Gegenstimmen, die versuchen, zumindest auf halbwegs rationaler Ebene darüber zu diskutieren.

Simon Gansinger: Ein Medium wie das Wall Street Journal ist ohne Vergleich in Europa. Diese Zeitung hat vor der Wahl kein endorsement für Trump rausgeschickt, sie hat sich aber auch zurückgehalten, was Clinton betrifft. Bret Stephens zum Beispiel, der beileibe kein Freund von Trump und seiner Politik ist, bemüht sich im Wall Street Journal darum, die gegenwärtigen Debatten und policies einigermaßen nüchtern zu analysieren und zu trennen, was daran tatsächlich absolut jenseitig und was daran diskutabel ist. Es geht darum, bei aller Abneigung gegenüber Trump eben nicht in diese blinde Wut zu verfallen, die durchaus üblich ist in Europa und auch in amerikanischen Medien wie der New York Times oder dem New Yorker, der am Tag nach der Wahl vom Ende der Demokratie geschrieben hat.

Marlene Gallner: Auch in anderen Zeitungen der USA: In der Washington Post zum Beispiel findet sich auch dieses platte Anti-Trump-Ressentiment, auch hier wird vom „muslim ban“ gesprochen...

Simone Dinah Hartmann: „Insgesamt wird die Situation für Israel viel gefährlicher.“ Aus einem Gespräch über die neue US-Administration mit Ljiljana Radonić und Gerhard Scheit, 3. März 2017

Das Problem besteht dann, wenn die USA als Hegemon wegbrechen, damit meine ich auch das, wofür sie stehen, den westlichen Liberalismus nämlich, dann ist auch das Modell, an dem sich Europa orientieren kann, flöten gegangen. Und Trump steht nun eben nicht für diesen Liberalismus. Europa aber braucht eine Orientierungshilfe, denn wenn Europa sich an sich selbst orientiert, geht es zugrunde.

Gerhard Scheit: Das Appeasement der Souveränisten. Geert Wilders in der Weltwoche

Wer das „Leben unserer Kinder und Enkelkinder ernst nehme“, müsse die Grenzen bewachen. Es verhält sich mit dem ganzen ausführlichen Gespräch der Weltwoche so, als gäbe es Außenpolitik gar nicht mehr. Das herbeibeschworene Leben unserer Kinder und Enkelkinder ist nur der emotionale Ausdruck davon, dass ab nun von den Optionen einer hegemonialen Außenpolitik im Sinne des Westens vollständig geschwiegen werden soll.

Markus Bitterolf: Zwischen Schmitt und Keynes. Oswald Mosley und die Wandlungen des autoritären Charakters in Großbritannien

Nur eine einheitliche europäische Regierung sei in der Lage, in den sich steigernden Macht- und Wirtschaftskämpfen auf der Welt der Rasse der Europäer ihre Lebensgrundlagen zu sichern: sie bilde keinen Bundesstaat oder Staatenbund mehr, sondern Europa selbst werde ein Staat. Mit dieser fixen Idee ist Oswald Mosely bis heute in Erinnerung geblieben: „Europe a Nation is the only solution“. Offenbar wollte er die Unterwerfung der verschiedenen faschistischen Bewegungen und Staaten Europas durch den zum Vernichtungskrieg treibenden Unstaat des nationalsozialistischen Deutschlands einfach nicht zur Kenntnis nehmen und stellte sich wie in einem Tagtraum vor, dass nunmehr aus jenen Bewegungen mitsamt dem mittlerweile besiegten Deutschland sogar ein gemeinsamer Staat hervorgehen könnte, der das Versäumte, die Verbrüderung aller europäischen Faschisten sozusagen auf Augenhöhe, nachhole und daraus einen einzigen Staat mit verschiedenen Völkern forme.

Manfred Dahlmann: Autarkie ist Regression. Ausschnitte aus einem Gespräch mit Gerhard Scheit

Wenn die Waren wegen der Zölle das Doppelte kosten oder gar nicht erst importiert werden, dann richtet sich dieser Volkswille, obwohl er doch auf die Autarkiepolitik ansonsten so dermaßen fixiert ist, dass seine Träger für sie zu sterben bereit sind, gegen die Autarkie. Der Weltmarkt, den keiner ja je wirklich gewollt hat und für dessen Entstehung es nie eine politische Bewegung gegeben hat, sondern der sich hinter dem Rücken der Einzelstaaten durchsetzte, entstand in diesem Zwiespalt der Bürger, den sich im Weltmarkt ausbildenden Reichtum sich aneignen zu wollen, dabei aber auf den Staat setzen zu müssen, der aber nun einmal der größte Feind des Weltmarktes ist; ihn tendenziell zerstört. Man kann es auch so sagen: Das Volk ist ein Souverän, der sich immer wieder selbst an seinen größten Feind verrät und zu ihm überläuft.

Frederik Fuß: Nicht-Orte im (Un-)Recht. Menschenrechte in Guantanamo – oder: Die Grenzen des juristischen Verstands

Auch hat sich der ,Alltag‘ der Gefangenen durch ihren wiedererlangten Status als Rechtssubjekt nicht automatisch verbessert. Nachdem bereits 2002 Camp X-Ray aus Platzmangel geschlossen wurde, verschärfte sich, durch die Eröffnung des Komplexes von Camp Delta, der aus sechs Lagern besteht, die Lage der Gefangenen. Denn litten in Camp X-Ray noch alle gleichermaßen unter den schlechten Bedingungen, wurde nun ein System installiert, in welchem mit Privilegien Häftlinge gegeneinander ausgespielt werden konnten, was freilich auch tendenziell der Praxis in vielen Gefängnissen innerhalb der Rechtsstaaten entspricht. Die Geschichte von Guantanamo zeigt so gesehen, dass die Grenzen zwischen Ort und Nicht-Ort des Rechts, rule of law und Herrschaft des Rackets durchaus fließend sind. In der Debatte, die nun seit mehr als zehn Jahren über Guantanamo geführt wird, werden die USA aller möglicher Menschenrechtsverletzungen bezichtigt; die Vorwürfe entstammen zum einem dem tatsächlichen Schrecken über das Vorgehen in Guantanamo, zum anderen der eigenen Ohnmacht und der ideologischen Wirkmächtigkeit der Menschenrechte und ihren auf der Grundlage der bestehenden Verhältnisse nicht einlösbaren Versprechen von einem guten Leben für alle, woraus sich wiederum die Uneinsichtigkeit speist, dass die Menschenrechte für ihre universelle Gültigkeit einen über den Staaten regierenden Souverän bräuchten, den es nicht geben kann: Das Gewaltmonopol, auf dem Souveränität beruht, ist nur möglich durch das potentiell feindliche Verhältnis der Staaten zueinander. Seine Unmöglichkeit wird gerade von jenen Vereinten Nationen unter Beweis gestellt, die als dieser Souverän imaginiert werden.

Karl Pfeifer: Der Fall Bensoussan

Am 7. März 2017 wurde der französische Historiker Georges Bensoussan in Paris vom Gericht freigesprochen. Dem Direktor des Pariser Mémorial de la Shoah und Autor wichtiger Bücher wurde „Provokation zum Rassenhass“ vorgeworfen, weil er in einer vom Philosophen Alain Finkielkraut moderierten Sendung am 10. Oktober 2015 folgende Sätze sagte: „Die Integration ist steckengeblieben. Heute haben wir es mit einem anderen Volk zu tun, das sich innerhalb der französischen Nation gebildet hat, das eine Anzahl von demokratischen Werten, die uns vorwärtsgebracht haben, zurückdrängt. … Diesen virulenten Antisemitismus … kann man nicht stillschweigend gewähren lassen. Es gibt einen algerischen Soziologen, Smain Laacher, der mit großem Mut in einem Film von France 3 gezeigt wurde, und der sagte, ‚es ist eine Schande, dieses Tabu aufrechtzuerhalten, zu wissen, dass in den arabischen Familien in Frankreich – und die ganze Welt weiß es, aber keiner will es sagen – man den Antisemitismus mit der Muttermilch einsaugt.‘“

David Hellbrück: Konsequente Souveränisten. Reichsbürger als militante Querulanten

Die Verkennung des Gewaltmonopols zeigt sich bereits darin, dass der Reichbürger den Souverän nur als Firma wahrhaben möchte, um sich ihm gegenüber selber als der eigentliche Souverän zu imaginieren. Wie viele andere reimt auch Wolfgang P. sich zusammen, dass das Präfix Personal in Personalausweis belegen würde, dass der Besitzer jenes Ausweises Personal der BRD, die daher kein Staat, sondern ein Unternehmen darstelle – oftmals reduziert auf eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (‚BRD GmbH‘). Diese Staatlichkeit sei einer Fiktion geschuldet und sobald die Bürger solcher vorgeblichen Staatsbürgerschaft nur entsagen, sei auch die BRD hinfällig. Unter Rekurs auf diese Argumentationsfigur, die für die konsequenten Souveränisten maßgeblich ist, erklärte er, handschriftlich dokumentiert und im Internet verbreitet, durch eine ‚Lebendmeldung‘, seinen Staatsaustritt. Wolfgang P., der den Staat als Firma apostrophiert, kündigt damit, wie er es meint, sein Dienstverhältnis auf.

Klaus Thörner: „Er hat in Wahrheit unsere Lage sehr gefährlich gemacht.“ Arbeitswahn und Judenhass bei Martin Luther

Zum jüdischen Kontrahenten Luthers und aller Judenhasser der Reformationszeit wurde Josel von Rosheim (1476–1554), eigentlich Joselmann Ben Gershom Loans. Er lebte als Rabbi, Händler und Geldverleiher in der Stadt Rosheim im Elsass und war zunächst Sprecher, Vorsteher und Leiter der jüdischen Gemeinden im Elsass. Allmählich übernahm er die Rolle eines anerkannten überregionalen Interessenvertreters der Juden. 1520 verlieh ihm Kaiser Karl V. das Privileg, als oberster Vertreter für die rechtlichen und religiösen Angelegenheiten der jüdischen Gemeinden im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und in Polen zu fungieren. In den Folgejahren setzte er sich energisch für jüdische Interessen ein. So erwirkte er einen Schutzbrief des Kaisers für alle Juden des Reiches. Während des Bauernkrieges überzeugte er die elsässischen Bauern, die beschlossen hatten, die Stadt Rosheim zu stürmen, in einer längeren Disputation mit ihren Anführern, Stadt und Juden zu verschonen. Nach der türkischen Belagerung Wiens von 1529 kursierte ein Plan, alle Juden aus dem Reich zu vertreiben. Josel von Rosheim konnte dies mit diplomatischem Geschick verhindern.

Dorothea Born: Sind wir nicht alle Eisbären? Die Klimawandel-Ikone in Deutschland und den USA

Die sich formierende Umweltbewegung in Deutschland, mit der auch GEO großgeworden ist, war immer schon mehr braun als grün und hat sich die Aufmerksamkeit für ihre Themen stets mit dem Katastrophenbewusstsein der Deutschen erkauft. Ob Waldsterben, Ozonloch oder Klimawandel, immer steht die Katastrophe kurz bevor. Das Krisenbewusstsein der Deutschen manifestiert sich nicht nur in einer Verzichtsideologie: Wenn wir alle brav bio-fair-trade-regional Produkte kaufen, mit dem Rad zur Arbeit fahren, Energiesparlampen verwenden und Urlaub in der Region machen, wenn wir auf Fleisch verzichten und auf den Luxus von Wäschetrocknern, Haarföhns, Wegwerfwindeln und Fernflügen, dann ist das ein Beitrag zur Erlösung aus dem Jammertal der Klimakatastrophen, den die Deutschen zugleich als die Sache um ihrer selbst willen verstehen können, die zu betreiben sie immer schon auserwählt waren. Diese Ideologie zeigt sich auch in der Klimawandelkommunikation von GEO. Die wissenschaftlichen Grundlagen werden nur anfangs behandelt und kaum in Frage gestellt, stattdessen geht es um erneuerbare Energien, um Handel mit CO2-Zertifikaten, um klugen Konsum, um Ernährung.

H. v. Z.: Die Wiederkehr F. D. Roosevelts als Donald Trump in Elsässers Compact Exkursionen zu den Editorials der Barbarei, 3. Teil

„Fuck Trump! Der Typ ist irre geworden!“, titelt Elsässer in seinem Magazin für Souveränität. Mit den Luftschlägen gegen syrische Ziele habe Trump gemacht, „was sich nicht mal Obama getraut hat! Damit hat er seine eigenen außenpolitischen Grundsätze verraten! Damit provoziert er eine direkte Konfrontation mit Russland! Damit vollzieht er den Schulterschluss mit Neocons und Israel-Lobby, mit Erdogan und Merkel und all den anderen Aggressoren!“ Elsässers Wort in Gottes Ohr: Jetzt sei auch klar, „dass die Personalentscheidungen der letzten Wochen – das Rauskegeln vom Putin-Versteher Flynn und des Antiglobalisten Bannon aus dem inneren Kreis – kein Zufall war. Trump hat sich gegen diese Richtung und für den Schulterschluss mit den Neocons in seiner Familie (Kushner) und in der Partei (McCain) entschieden.“ Die Hoffnungen „auf ein Kondominium Putin-Trump“ seien „von den Yankees zerschossen worden. Alle Hoffnungen der souveränen Nationen liegen jetzt wieder allein beim russischen Präsidenten.“

Lea Fink: Erkenntnis in Gefahr

Da sich Benjamins Werk nicht eindeutig für die Aufklärung in Anschlag bringen lässt, sondern sich der fetischistischen Phantasmagorie des Kapitals so sehr anheim gibt, dass tatsächlich fraglich ist, wie aus der Tiefe dieser Versenkung heraus noch Kritik zu äußern ist, geht Polemik gegen den Poststrukturalismus, welche methodisch ähnlich verfährt und sich aus dem Gemischtwarenladen ‚Benjamin‘ die gefälligsten Passagen heraussucht, fehl. Die Frage, wie ein solches Denken, das tatsächlich am Kreuzweg von Magie und Materialismus steht, gesellschaftskritisch bleibt und seinen Anspruch auf Wahrheit nicht verliert, lässt sich nicht beliebig – der politischen Position der Autoren gemäß – entscheiden, sondern muss auch das Moment in Benjamins Philosophie reflektieren, welches der Faszination vor der Faktizität erliegt und in ihrem Gegenstand untergeht.

Lars Fischer: Zur Beziehung zwischen Gershom Scholem und Theodor W. Adorno

Im Dezember 1962 schrieb Adorno an Scholem: „Ich beschäftige in diesen Tagen mich sehr intensiv mit Ihren ‚Unhistorischen Thesen‘ zur Kabbala. Es bedarf keiner großen Ratekünste, damit Sie verstehen, daß mir diese Sache besonders wichtig ist. Es gibt, von allem anderen abgesehen, wohl auch nichts von Ihnen, worin eine so tiefe theoretische Beziehung zu Benjamin, zumal den geschichtsphilosophischen Thesen, sich äußert. Andererseits ist es ein unmenschlich schwerer Text, und obwohl ich doch wirklich an allerhand gewöhnt bin, maße ich mir nicht an zu behaupten, daß ich es ganz verstanden hätte… Adorno forderte Scholem im Laufe der 1960er Jahre wiederholt dazu auf, die philosophischen Implikationen seines Studiums der jüdischen Mystik auf eine explizitere, weniger esoterische Weise programmatisch zu formulieren, doch wich Scholem diesem Ansinnen stets aus, so auch bei dieser Gelegenheit. „Ich habe mich mit der Zustimmung, die unhistorischen Sätze über die Kabbala zum Druck zu geben, entschieden versündigt,“ schrieb er, „ging freilich, entsprechend dem in einem dieser Sätze Gesagten, davon aus, daß sowieso kein Mensch davon Kenntnis nehmen würde und daß die sicherste Weise es versteckt zu halten, wäre, sie an einem gedruckten Ort wie einer solchen Festschrift unterzubringen. Jetzt wollen Sie einen Kommentar. Ja was denken Sie sich denn? So etwas gab es nur in den alten Zeiten, wo die Autoren die Kommentare gleich selber schrieben, und wenn sie klug waren, enthielten die meistens das Gegenteil von dem, was im Text stand. Ich werde mich hüten, mich da in die Brennesseln zu setzen. Von meinen Sätzen gilt: rette sich wer kann. Der Engel, der über die geistige Empfängnis gesetzt ist, heißt bekanntlich Laila, das heißt Nacht.“

David Hellbrück: Claude Lanzmann in Wien

Lanzmann als Regisseur bedient daher auch kein Genre, das des Dokumentarfilms beispielsweise. Er selbst drückt sich mit jedem Film neu aus, einzig die Beziehungen zu bereits entstandenen Werken lassen sich skizzieren. In jedem Fall transzendiert das Kunstwerk den Künstler, der steht mehr oder minder im Schatten seines Werks – gerade deutlich wird das im Fall des Selbstporträts, da er sein Selbst zum Gegenstand macht. Wenn ein filmeproduzierender Künstler – und Lanzmann gehört zu den wenigen, die das Format des Films durch den Film bereits reflektieren – dann über seine Filme Auskunft geben soll, rücken ebendiese notwendigerweise in den Hintergrund, seine Person erstrahlt im Rampenlicht. Und genau hier ist die Problematik zu verorten, soweit die bloße Ikonisierung der Künstlerperson stattfindet, die eine kritische Distanz stillzustellen droht.

Auszug: Adorno in Teheran

Inzwischen sind sogar Texte von Adorno und Arendt zum Thema Auschwitz in einem eigenen Band erschienen, und zwar 2014 im Verlag Goharshid in Teheran. Auf dem Umschlag des Buchs sieht man die entsprechende ‚Ikone‘: Rampe und Eingangstor des Vernichtungslagers Birkenau. Es gehört zur Logik des Regimes, dass hier auf den ersten Seiten nicht der Kommentar fehlen darf, die Aussagen über die Vernichtung der Juden seien eine große Lüge, die von Zionisten propagiert werde, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Eine eigenartige spiegelbildliche Verkehrung: Man geht im Iran mit Adornos und Arendts Texten ähnlich um wie das Münchner Institut für Zeitgeschichte mit Hitlers Mein Kampf und macht sozusagen eine kommentierte Ausgabe.

Günther Anders: Über die Esoterik der philosophischen Sprache

„Schon gut“, meinte Dr. A. „Wichtig ist mir allein der Gedanke, dass unsere Esoterik zuweilen nichts anderes ist als der Ausdruck dafür, dass wir nichts zu sagen haben wollen. Also nichts anderes als das Eingeständnis unseres Verzichtes auf Wirksamkeit. Einem solchen Verzicht haben Sie ja nun wirklich einige Male Ausdruck gegeben. In diesem Fall ist Esoterik also, im Unterschiede zum Normalfall der Esoterik, nicht Zeichen der Macht, nicht Zeugnis einer privilegierten Gruppe, sondern umgekehrt Beteuerung der eigenen Harmlosigkeit. ,Seht, wie schön unverständlich wir schreiben‘, scheinen wir zu beteuern. Oder: ,Wer wird auf unsere Rede schon hören?‘ Kurz: Wir berufen uns auf Narrenrechte.“

Professor T. machte eine empörte Geste.

„Meinen Sie die, wenn Sie für die Esoterik unserer philosophischen Sprache plädieren? Die schlechteste Rechtfertigung wäre das nämlich nicht. Dass derartiges oft nötig, und die Undurchsichtigkeit der Tarnungsmittel oft geboten war; und dass im Laufe der Jahrhunderte vieles Wichtige nur verbrämt mitgeteilt werden konnte, weil es, nackt ausgesagt, samt Sprecher sofort verbrannt worden wäre, das haben wir ja erlebt. Vielleicht ist es sogar erlaubt, darin die wirkliche Rechtfertigung der Esoterik der philosophischen Sprache zu sehen. Ich hoffe, Sie verstehen, Herr Kollege: Es ist wirklich ein neuer Punkt, den Sie da aufs Tapet gebracht haben. Esoterisch ist ja nicht nur die Sprache der privilegierten Gruppen, sondern auch die der gefährdeten oder der konspirativen.“ Professor T.’s Gesicht wurde immer abweisender. „Ich wüsste nicht, dass ich einen solchen Punkt aufs Tapet gebracht hätte.“

Günther Anders: His-Dur

Die Irritiertheit zwischen Adorno und mir begann an dem Abend im Jahr 30, an dem ich ihn, gerade in Frankfurt zu einem Vortrag angekommen, auf einem Kostümball der Philosophischen Fakultät kennenlernte. Und zwar dadurch, dass ich ihm „kostümiert“ vorwarf, dass alles, was ich von ihm kenne, in His-Dur notiert gewesen sei. Er verstand das blitzartig. Als der unmusikalische Tillich fragte: „in was?“ und ich die Erklärung verweigerte, weil deren Verständnis große technische Kenntnis voraussetzte, entstand eine sekundenlange Komplizität zwischen Adorno und mir. Länger als ein paar Sekunden währte seine Dankbarkeit freilich nicht. Diese Ambivalenz der Beziehung hat bis zum Ende angehalten.

Konrad Paul Liessmann: Hot Potatoes. Zum Briefwechsel zwischen Anders und Adorno

Was die Causa Benjamin betrifft, streitet Anders es kategorisch ab, Benjamin je einen „Caféhausliteraten“ genannt zu haben. In einem versöhnlicheren Postskriptum zeigt Anders allerdings Verständnis für Adornos seinerzeitige Ablehnung seiner musikphilosophischen Schrift, da dieser deren Heideggerianismen nicht als bloße „Restfetzen“ erkannt haben konnte: „Was Musikphilosophie betrifft, so würde ich heute übrigens ihren Monopolanspruch als völlig rechtmäßig anerkennen (so wie meinen für Bildinterpretation). Ich gelte sogar, wie komisch das auch sub specie der zwischen uns bestehenden Spannung sein mag, bei Musikern, denen Sie unbequem sind, und Musikologen, die sich auf bloße Skelettzeichnungen beschränken, als unverbesserlicher Adornist. Was einem, was zweien, nicht alles passieren kann!“

Günther Anders: Adorno-Gespräch. Wien, Mitte Mai 1966

Im Laufe des Gesprächs frage ich ihn, ob er u. U., wenn hier eine Matinee über Grass-Brecht arrangiert werden würde, mitauftreten würde, ob er Brecht gegen die blöde Attacke durch Grass in Schutz nehmen würde. Darauf antwortete er, er sei nicht wie Benjamin, Viertel oder ich der Faszination Brechts erlegen und er möchte nicht als Fahnenträger Brechts auftreten. Brecht sei Terrorist gewesen – er bezog sich da vor allem auf die frühen Stücke wie die „Maßnahme“, ich gab auch zu, behauptete sogar von mir aus, dass ein gewisser gemeinsamer Zug der Vorliebe für terroristische Situationen in den Zwanzigerjahren Nazi- und kommunistische Schriftsteller verbunden habe. Dass dieses Element aber bei Brecht überwunden worden sei, und die Figur des freundlichen Menschen Zentralfigur geworden sei – was Adorno zugab, aber gerade diese Figuren empfand er als unerträglich „schmarrenhaft sentimental“. – In anderen Worten: gegen die skandalöse Attacke von Grass persönlich aufzutreten, weigerte er sich. –

Günther Anders: Die entscheidende Divergenz. 1982

Gefragt, welches der entscheidende Unterschied zwischen Adorno und mir sei, antwortete ich, dass er, obwohl durch immensen Einfluss „praktisch tätig“, über die Unmöglichkeit von „Praxis“ (im Sinne von Revolution) nicht nur (wie er sein Leben lang vorgab) verzweifelt gewesen sei – letztlich war ja die Tatsache Sowjetrussland, also die „missglückte Revolution“, Anlass und Inhalt seines gesamten Werkes; sondern dass er das „Nicht-handeln Können“ als ein „Nicht zu handeln brauchen“ letztlich begrüßt habe …

Günther Anders: Die entscheidende Konvergenz. Aus der Rede zum Dank für den Adorno-Preis 1983

Adornos und meine Darstellung der Beschädigung, Dehumanisierung und möglichen Annullierung des Menschen könnten zusammen wohl so etwas wie eine Enzyklopädie der apokalyptischen Welt bilden. Ein trauriges Team stellen wir dar.

Gerhard Oberschlick: Editorische Bemerkungen

Eine kleine „Ketzerei“ aus den nachgelassenen Typoskripten zuerst, dann der nur hier so betitelte kurze Auszug aus Anders’ Rede zum Adorno-Preis runden das Denken mit Anders zum 115. Geburtstag in seinem 25. Todesjahr ab, und sei es nur, um die Wahrheit eines seiner gereimten Aperçus etwas hinauszuschieben, um nicht zu sagen: dieses, mit dem er hier das letzte Wort behält, in seinem Sinne zu widerlegen: „Letzter Nachtspruch // Kein Sternbild hat dich je vermisst, / kein Gott dein Buch gelesen, / im Nu, da du gegangen bist / warst du nie dagewesen.“

Christoph Hesse: In vergnügt lärmender Verzweiflung. George Grosz: Briefe eines Europamüden

„Seine Muse, ohne die es vermutlich zu keinem seiner Bilder gekommen wäre, hieß ‚Ekel‘“, schreibt Günther Anders über Grosz. „Was immer der Primärsinn der Ausdrücke ‚schlagende Ähnlichkeit‘ oder ‚schlagendes Portrait‘ gewesen sein mag – und gewiß war als ‚geschlagen‘ nicht der Portraitierte gemeint, sondern der Beschauer –, Grosz stellte ‚schlagende Portraits‘ nun in diesem Sinne her, d. h.: er portraitierte seine Opfer, um sie damit wirklich zu treffen. Nicht nur ein aggressiver Realist war er also, vielmehr deshalb Realist, weil er aggressiv war.“ Ein, wie man so sagt, gegenständlicher Maler und Zeichner bleibt Grosz unbeschadet aller geistigen und künstlerischen Wandlungen zeit seines Lebens, auch in New York, wo der einstige Dadaist und Kommunist darum als konservativ gilt. Er selbst macht sich einen allerdings durchaus ernst gemeinten Spaß daraus, wie ein aus der Zeit gefallener Rembrandt ans Werk zu gehen: einsam und unbeeindruckt von den Manieren und Moden, die er um sich herum wahrnimmt. Jackson Pollock zum Beispiel, den „Rohrschachtest-Rembrandt“, findet er immerhin höchst amüsant. Prinzipielle Vorbehalte gegen abstrakte Malerei, oder selbst das Ausquetschen von Farbtuben ganz ohne Malerei, hegt er keineswegs; nur reizt sie ihn selbst nicht. Die Phantasie sei „ein gefährliches Erbteil“ und in der Bildenden Kunst „nur zur Vollendung zu bringen … durch genaues Naturstudium.“

Gerhard Scheit: Einheit im Widerspruch. Zur Kafka-Deutung von Günther Anders und Theodor W. Adorno

Anders schreibt selbstironisch zur Neuausgabe von 1982, dass er in Kafka pro und contra sein Urteil „auf dem Höhepunkt antifaschistischer Erregung“ gefällt habe, „in einem Augenblick also, in dem es für Unsereinen kein Thema geben konnte, das außerhalb dieses Umkreises hätte liegen können“, und so habe er sich eingeredet, „in Kafka einen Feind zu entdecken“. weil ihm „jede Unterwürfigkeits- und Assimilationsneigung gegen den Strich ging“. Ob zu Recht oder Unrecht sei ihm „K.’s Lieblingsbeschäftigung, die mit seiner angeblichen Schuld“ als „eine Art von negativem Narzißmus, als voluptas humilitatis, als Masochismus“ erschienen.

Renate Göllner: Die lesbische Frau, das zweite Geschlecht und die sexuelle Gewalt. Versuch über Simone de Beauvoir

So gesehen bedeutet auch das Stadium der Verliebtheit für Männer manchmal etwas anderes, nämlich dann, wenn sie für diese Zeit die Fähigkeit, sich zum Objekt machen zu lassen, nur vortäuschen. Heinrich von Kleist hat diese Konstellation auf einzigartige Weise in seinem Stück Penthesilea im Verhältnis des Achill zur Titelfigur durchsichtig gemacht. Dass jedenfalls dieser Objektstatus, also die Passivität, nicht so einfach zu haben ist, wusste niemand besser als der heimliche Dialektiker Freud: „Man könnte daran denken, die Weiblichkeit psychologisch durch die Bevorzugung passiver Ziele zu charakterisieren.“ Das jedoch dürfe nicht missverstanden werden. „Es mag ein großes Stück Aktivität notwendig sein, um ein passives Ziel durchzusetzen.“ Sichtermann deutete nun zwar an, dass zugleich auch die Nähe der Objektivierung zur Herrschaft reflektiert werden müsse, um eine Balance jenseits von Herrschaft durch Verflüssigung der Positionen herzustellen, aber auch sie führte damals nicht weiter aus, was daraus für die Bestimmung sexueller Gewalt folgt.

Dieter Sturm: Entschärfung der Subjektphilosophie, Verdrängung der Gesellschaftskritik. Eine 30 Jahre zu spät gekommene Rezension

In der Tat erscheint es so, als ob der Kongress sieben Jahre nach Sartres Tod weniger den Versuch darstellen sollte, die Widersprüche und Brüche in dessen Denken zu entfalten und ihn mit anderen Denkrichtungen im Bewusstsein ihrer unaufhebbaren Differenzen zu ihm zu konfrontieren, als vielmehr entweder Einzelaspekte seines Denkens oder dieses als vermeintlich einheitliches oder besser: kontinuierlich fortgeschrittenes philosophisch-theoretisches Unternehmen an damals aktuelle Diskussionen in Philosophie und Sozialwissenschaften anzugliedern und sie gleichsam für sie „fruchtbar“ zu machen. Zu bemerken ist eine wohlwollende Fokussierung auf den späteren Sartre, der seine frühe Philosophie der vermittlungslosen – und potentiell gewaltsamen – Konfrontation von Subjekt, Objekt und dem Subjekt-Anderen in eine aktivistische „Sozialontologie“ überführt hat, die weiterhin keine gesellschaftliche Vermittlung kennt, aber stattdessen die vormals rein existentiellen Kategorien nach Maßgaben des Kampfes des Proletariats gegen die Bourgeoise „sozialisiert“. … Damit zusammen hängt auch die Interpretation Sartres aus dem Geist der kommunikations- und handlungstheoretischen Nachfolger der Kritischen Theorie, wie sie auf dem Kongress vor allem durch Axel Honneth und Hauke Brunkhorst vertreten waren, denen am Verschwinden sowohl des immer nur als Einzelnes möglichen Subjekts in einem „apriorischen Intersubjektivismus“ als auch am Begriff von gesellschaftlicher Totalität, wie ihn die ältere Kritische Theorie entfaltet hat, gelegen ist.

Alfred Schmidt: Lévi-Strauss versus Sartre

Bei gleichlautender Terminologie ist der Gegensatz von Praxisphilosophie und strukturaler Ethnologie unübersehbar. Lévi-Strauss versteht die Begriffe Sartres völlig anders als dieser. Daher die offenkundigen Mißverständnisse. Wenn Sartre die analytische Vernunft der dialektischen gegenüberstellt, dann nicht wie Irrtum und Wahrheit, sondern wie stets begrenzte Wissenschaft und Philosophie. Hegel, sein Gewährsmann, hat ihn darüber belehrt, daß Vernunft, obwohl an sich das Höhere, nicht ohne den Verstand auskommen kann, wohl aber dieser ohne sie. Da die Marxisten es allzulange versäumt haben, die „neuen“, analytisch aufbereiteten „Erkenntnisse über den Menschen“ in ihre Theorie des Verlaufs unserer Epoche „zu integrieren, … ist der Marxismus verarmt“. Für Sartre bildet, anders gesagt, das analytische, im Hegelschen Sinn abstrakte Wissen ein unabdingbares Moment der Wahrheit des konkret-dialektischen. Beide Typen von Rationalität führen deshalb auch nicht einfach zu den nämlichen Wahrheiten, sondern sind, im Prozeß der werdenden Wahrheit, wechselseitig aufeinander verwiesen.

Manfred Dahlmann: Das Rätsel der Macht. Zur Kritik Michel Foucaults

Es scheint schon bisher unmittelbar einsichtig, dass in Foucaults Machtbegriff für den Begriff Krise beziehungsweise Verelendung (wohl aber Elend als Resultat,) kein Platz ist. „Was die Volksbewegungen betrifft, so hat man sie immer durch Hungersnöte, Steuerlasten, Arbeitslosigkeit erklärt; niemals sah man in ihnen einen Kampf um die Macht, als könnten die Massen zwar von gutem Essen träumen, aber gewiss nicht von der Ausübung der Macht.“ Alle Bezugspunkte, auf die sich eine ökonomische oder soziale Krisentheorie stützen könnte, fehlen hier: Begriffe wie Wohlstand/Reichtum; wünschbare oder existierende Ordnung; (ökonomische) Gesetzmäßigkeit (Gesetze überhaupt); Rechtsordnung; ja sogar der der Herrschaft der Bourgeoisie, auf deren Gefährdung jede Krisentheorie rekurrieren müsste, werden von Foucault nicht entwickelt. Alle diese Begriffe sind aufgelöst in die Kategorien Kampf, in beständiges Werden, in ein Werden, das weder Auf- noch Abwärtsbewegungen kennt, sondern nur horizontale beziehungsweise vertikale Verteilungen in einem Netz der Macht.

Andreas George: Der Inbegriff des Politischen. Carl Schmitts Begriff des Politischen und der Antisemitismus als seine Konsequenz

Genauer besehen spannt sich nun die liberalistische Kritik der Gewalt, welche „das Politische als eine Sphäre der ‚erobernden Gewalt‘ zu annihilieren sucht“, für Schmitt zwischen zwei Polen auf: „In einer überaus systematischen Weise umgeht oder ignoriert das liberale Denken den Staat und die Politik und bewegt sich statt dessen in einer typischen, immer wiederkehrenden Polarität von zwei heterogenen Sphären, nämlich von Ethik und Wirtschaft, Geist und Geschäft, Bildung und Besitz.“ Zwischen Geld und Geist also mutieren alle politischen Begriffe und werden ihres spezifischen Sinns beraubt. Derart hat der Liberalismus ein „ganzes System entmilitarisierter und entpolitisierter Begriffe“ entstehen lassen. So wird aus der klaren Unterscheidung von Krieg und Frieden „die Dynamik ewiger Konkurrenz und ewiger Diskussion“, aus dem „politisch geeinten Volk“ wird im ökonomischen Sinn „teils ein Betriebs- und Arbeitspersonal, teils eine Masse von Konsumenten“, im ethischen Sinn ein „kulturell interessiertes Publikum“. Zuletzt wird durch den Liberalismus auch der Staat entpolitisiert: „Der Staat wird zur Gesellschaft“. Als solche steht er nur noch für ein einheitliches Wirtschaftssystem und für eine „ideologisch-humanitäre Vorstellung von der ‚Menschheit‘“, nicht aber für die politische Einheit. All das, eine Wirkungsentfaltung von Geld und Geist – warum? Warum ist die Entpolitisierung für Schmitt wesentlich von diesen Polen des Liberalismus bestimmt?

Rolf Bossart: Wieder anfangen mit Freud. Über die Haltbarkeit der Zivilisation: Klaus Heinrich zum 90. Geburtstag

Warum aber spielt am religionswissenschaftlichen Lehrstuhl, den Heinrich aufgebaut hat, die Psychoanalyse für die Theoriebildung eine derart zentrale Rolle? Heinrich stellt diese Frage apologetisch ebenfalls an den Anfang seiner Ödipus-Vorlesung. Nebst dem Ziel, ihr in seinem Institut nach der sich damals schon abzeichnenden Verdrängung der Psychoanalyse aus der Psychologie Asyl zu bieten, nennt Heinrich zwei Erfahrungen, die ihn angesichts der „Wiederbelebung oder Neugründung von Universitäten“ nach 1945 in Deutschland erschrecken machten: „Erstens, was von 1933 bis 45 manifest geschehen war, also der NS-Faschismus, war im Handumdrehen verdrängt worden … woraus sich unmittelbar die Frage ergab wie kann dieser Verdrängungsvorgang in wissenschaftliche Reflexion eingebracht werden? … Aber so ist die Frage falsch gestellt … Die Frage war im Grunde genommen sehr viel prekärer gestellt: gibt es überhaupt eine Wissenschaft – und nur eine solche schien uns damals zu zählen – die nicht ohnmächtig derartigen Verdrängungsvorgängen gegenübersteht? Die zweite Erfahrung war die negative Antwort auf die erste Frage.“