sans phrase - Zeitschrift für Ideologiekritik

Heft 14, Frühjahr 2019

Joachim Bruhn: „Nichts gelernt und nichts vergessen“. Vortrag, gehalten am 26. Februar 2010 in Hamburg

Am 13. August 1920 hat Adolf Hitler uns eine bis heute gültige Frage gestellt, als er im Münchner Hofbräuhaus seine erste überlieferte Rede über den Antisemitismus gehalten hat. Er fragte das Publikum: „Wie kannst du als Sozialist nicht Antisemit sein?“ Das ist bis heute die Frage geblieben; und ich hoffe, dass die weiteren Ausführungen, die von der Geschichte des Antizionismus in Deutschland handeln sollen, diese Frage doch in einem nicht-hitlerischen Sinne helfen werden zu klären. Denn irgendwann zwischen der Wannseekonferenz und der Gründung Israels hat der Hass auf Israel jedwede Geschichte verloren. Danach gibt es keine Antisemiten mehr: weil alle es sind und jeder qua bürgerliches Subjekt schon sowieso. Der Antisemitismus wird nun zum logischen wie zum historischen Apriori, quasi zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins der Deutschen. Als außer Johann Georg Elser kein proletarisches Subjekt zur Verteidigung der Juden die Waffen erhob, als noch die Idee der Kommunistischen Internationale, die Weltrevolution für die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft ausgestrichen und durch Stalins „internationalen Patriotismus“ ersetzt wurde, hatte sich die Kapitalgesellschaft mit sich selbst zur zwar negativen, aber doch fugenlosen Identität vermittelt. Das heißt, sie hatte sich historisch ausgemittelt, und sie hatte darin jedwede Idee eines Fortschritts der Menschheit im Bewusstsein der Freiheit weit von sich gewiesen. Der Sinn der Geschichte selbst wurde liquidiert. Danach ist jede ‚List der Vernunft‘, deren emanzipative Logik aus der bewusstlosen Wechselwirkung der ihrer selbst unbewussten Subjekte folgen sollte, nur Projektion und macht sich, so Adorno, „der Kardinalsünde schuldig: Sinn dort zu infiltrieren, der nicht existent ist“, und noch die unendlich tibetanisch-marxistische Gebetsmühle vom ‚Grundwiderspruch von Lohnarbeit und Kapital‘ beweist, dass Adornos Frage, „ob es denn Geschichtsphilosophie ohne latenten Idealismus“ geben könne, strikt verneint werden muss.

Phyllis Chesler: Der Women’s March ist Augenauswischerei

Auf der Rednerbühne in Washington fanden sich zahlreiche Promis und eine Riege überwiegend nichtweißer Ehrenvorsitzender ein: Harry Belafonte, La Donna Harris, Angela Davis, Dolores Huerta. Gloria Steinem war die einzige weiße Ehrenvorsitzende. Die jüdische Mitbegründerin des Women’s March Vanessa Wruble hat erklärt, sie sei durch den Antisemitismus der anderen Anführerinnen, der niemandem aufgefallen und von niemandem kritisiert worden sei, hinausgedrängt worden. Wie sie der New York Times mitteilte, habe eine der Wortführerinnen der Demonstration erklärt, man könne „jüdischen Frauen keine zentrale Rolle einräumen, da wir dadurch Gruppen wie Black Lives Matter verprellen könnten“. (Wruble beteiligte sich anschließend an der Gründung der gemeinnützigen Organisation March On, die an verschiedenen Orten in Nordamerika gleichzeitig mit dem Women’s March Demonstrationen veranstaltet hat.)

Marlene Gallner: Kurze Anmerkung zu Phyllis Cheslers Kritik des Women’s March

Eine gravierende Konsequenz der Intersektionalitätstheorie ist, dass man sich mit dem Vorwurf des Antisemitismus gar nicht argumentativ auseinanderzusetzen braucht. Stattdessen scheint es ausreichend, drei jüdische Mitglieder in den Steuerungsausschuss einzuladen, die der eigenen politischen Linie entsprechen, um den Vorwurf für nichtig zu erklären. Als Jüdinnen segnen sie das antisemitische Programm ab und dienen letztlich als eine Art Schutzschild, mit dem unliebsame Nachfragen abgewehrt werden. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, der erst kürzlich wieder zu Tage trat, als Bob Bland das „jüdische Establishment“ für den rechtsterroristischen Anschlag in Neuseeland verantwortlich machte, wird dabei gänzlich ausgeblendet.

Holger Politt: „Was willst Du mit den speziellen Judenschmerzen?“ Bemerkungen zur Antisemitismuskritik bei Rosa Luxemburg

Umfangreicher setzte sich Rosa Luxemburg im Herbst 1910 mit Fragen des Antisemitismus auseinander. Anlass war eine Pressekampagne in Warschau, in der versucht wurde, die Frage in den öffentlichen Raum zu stellen, wer eigentlich polnische Arbeiter führen dürfe. Gezielt wurde auf Rosa Luxemburgs sozialdemokratische Partei in Polen, die 1893 in Zürich unter anderem von ihr und Leo Jogiches gegründet wurde. In der Revolution 1905/06 hatte diese Partei eine herausragende Rolle gespielt, war auch in der Mitgliederstärke zu einer Massenpartei mit fast 40§000 Mitgliedern angewachsen. Als im Laufe des Jahres 1910 eine erneute Streikwelle in den Industriezentren im Königreich Polen anzuschwellen drohte, wurde plötzlich die antisemitische Karte gespielt: Juden hätten in der Revolution 1905/06 polnische Arbeiter auf die Schlachtbank geführt, hätten diese sinnlos geopfert. Gemeint waren Rosa Luxemburg und Leo Jogiches, der in den Revolutionstagen wegen seines konspirativen Talents und den strategischen Fähigkeiten zur wohl wichtigsten Führungsfigur auf Seiten der Arbeiterbewegung aufgestiegen war. Nun wurde ihm, der ursprünglich aus Wilna stammte, vorgehalten, gar nichts mit Polen zu tun zu haben, sondern ein litauischer Jude zu sein, was insgeheim bedeutete, stets andere als die polnischen Interessen zu vertreten. Und Rosa Luxemburg wurde schwarz auf weiß erklärt, dass das Gift, das sie in ihren Schriften den polnischen Arbeitern verabreiche in seiner bedrohlichen Wirkung allemal schlimmer sei als jener Schnaps, den ihre Vorfahren dem polnischen Volk ausgeschenkt hätten. Angespielt wurde auf die Tatsache, dass im alten Polen auf den Adelsgütern die Schankwirtschaften, in denen der auf dem Gut produzierte Wodka unters Bauernvolk gebracht werden musste, meistens von Juden gepachtet wurden.

Karl Pfeifer: Ärarische Geschichtsfälschung in Ungarn

Gegen Heisler, der Orbán zum Vorwurf macht, die Rehabilitierung Horthys voranzutreiben, hatte kurz vor seiner Israel-Reise die ungarische Wochenzeitschrift Figyelö eine antisemitisch gefärbte Attacke geritten: Sie überschüttete den Vertreter der größten jüdischen Gemeinde Ungarns mit unbegründeten Korruptionsvorwürfen und bildete ihn auf der Titelseite ab, wo um sein Konterfei Geldscheine wirbeln. Eigentümerin von Figyelö war übrigens bis vor kurzem Mária Schmidt, die sich auch als Verlegerin betätigt. Wie zahlreiche andere Besitzer ungarischer Print- und elektronischer Medien brachte auch sie als Zeichen der Staatstreue ihr Blatt in die jüngst im Sinne der Regierung gegründete „Mitteleuropäische Stiftung für Medien und Presse“ ein (FAZ vom 4. Dezember 2018). Heisler sprach ferner dem Rabbiner Slomó Köves, der mit einer Arbeit über die ungarisch-jüdische Geschichte im neunzehnten Jahrhundert promoviert wurde, die nötige Kompetenz für die Mitgestaltung der geplanten Schau im „Haus der Schicksale“ ab.

Gerhard Oberschlick: Für Karl Pfeifer

Der erfolgreiche Kampf mit Schreibmaschine und Papier, nicht wenig davon landet im Papierkorb, brachte den ersten ausgewachsenen Artikel sowie unversehens ein schönes – für den Arbeitslosen schönes Geld. Da hattest Du wohl den Beruf, dem Du bestimmt warst, endlich doch für Dich entdeckt, mit 51 anno ’79. Schon Anfang des folgenden Jahres erschien das große, sorgsam moderierte Round-Table-Gespräch von Budapest mit den Oppositionellen Hegedüs, Földvari und Zsille im FORVM, worauf Du dessen damaligem Blattmacher Michael Siegert den Zugang zu Deinen dissidenten Kreisen in Ungarn selbstlos eröffnet hast. Eifersüchtig gehütet hätten andere so ein Monopol auf wertvolle Kontakte.

Michaela Sivich: Venezuela Anfang 2019. Blitzlichter auf den Sozialismus des XXI. Jahrhunderts

16 Mitglieder der kubanischen Ärztemission in Venezuela berichteten in der New York Times über ein System absichtlicher politischer Manipulation, bei dem ihre Dienste eingesetzt wurden, um für die regierende Sozialistische Partei Stimmen zu erhalten, oft durch Zwang. Viele Taktiken seien angewandt worden, von „einfachen Erinnerungen“, für die Regierung zu stimmen, bis zur Androhung, (vermeintlichen) Oppositionellen mit lebensbedrohlichen Beschwerden die medizinische Behandlung zu verweigern. Die kubanischen Ärzte sagten, ihnen wurde befohlen, in ärmeren Gegenden von Tür zu Tür zu gehen, um Medikamente anzubieten und die Bewohner zu warnen, dass sie vom medizinischen Dienst ausgeschlossen würden, wenn sie nicht für Maduro oder seine Clique stimmen würden. „Mit Chavez war es hart gewesen, aber mit Maduro war es ab 2013 viel schlimmer“, sagte ein anderer kubanischer Arzt: „Es wurde zu einer Form der Erpressung. Sie werden keine Medikamente haben. Sie haben keine kostenlose Gesundheitsfürsorge. Wenn Sie eine schwangere Frau sind, werden Sie keine vorgeburtliche Betreuung erhalten.“ Vier der kubanischen medizinischen Angestellten berichteten, die Regierung habe „Wahlkommandozentralen“ innerhalb oder neben Kliniken eingerichtet, wobei die Ärzte dazu aufgefordert wurden, die Anwohner unter Druck zu setzen.

David Hellbrück / Gerhard Scheit: Jargon der politischen Ökonomie Zum 201. Geburtstag von Karl Marx

Ein funktionierender National- und Sozialstaat, die vielbeschworene Normalität, bringe weniger Antisemiten hervor als ein zerfallender, der seine Grenzen nicht schütze. Eben dieses Motiv aber bringt seinerseits – wenn es den Jargon der politischen Ökonomie spricht, statt sich ihrer Kritik unterziehen – ganz selbsttätig das Feindbild hervor: ‚Globalisten‘, die den funktionierenden National- und Sozialstaat unterminierten, denen also zugeschrieben wird, was in Wirklichkeit den vom Kapitalverhältnis gesetzten Zusammenhang von Nationalstaat und Weltmarkt ausmacht. Stattdessen wäre zumindest alles ‚realpolitische‘ Gewicht – wenn man schon anders nicht mehr denken kann – auf die akkurate Denunziation zu legen, dass die inoffizielle Staatsräson von Merkel & Co., aber ebenso von Strache & Co., sowie nicht wenige der Stiftungsideen von George Soros auf die Unterminierung Israels hinauslaufen. Die politisch ökonomischen Voraussetzungen der Souveränität des jüdischen Staats und der Hegemonie der USA zu reflektieren, ist aber ebenso unnötig, will man den Nahen Osten bloß als moralische Anstalt betrachtet wissen, in der die EU-Länder eines Besseren belehrt werden sollen. Dem neuesten Eurozentrismus der Bahamas ist es offenbar gleichgültig, was vor Ort geschieht … So wie die Identifikation mit Trump eben nur erfolgt, um aufzutrumpfen, aber nicht, um sich – wie in einer „Gegenidentifikation“ (Manfred Dahlmann) – die Bedingungen der US-Hegemonie vor Augen zu führen.

Gerhard Scheit: Zur politischen Ökonomie des Gegenhegemons. Was die deutsche Linke an Michael Hudson hat

Hudsons Begriff des Finanzimperialismus ist exakt so angelegt, dass mit ihm die Geschichte der deutschen Katastrophenpolitik vollständig camoufliert werden kann: Gerade sie erscheint als unmittelbares Resultat der US-Politik und der von ihr gedeckten „Parasiten“ – und es entbehrt nicht der Logik, dass der Autor Deutschland heute umso nachdrücklicher anempfiehlt, aus dem System des US-Finanzimperialismus auszubrechen und das Bündnis mit dem Iran zu suchen. Kein Wunder also, dass Michael Hudson als amerikanischer Stargast zur diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin eingeladen wurde.

H. v. Z.: Die Einsamkeit Theodor Herzls, Neuauflage

Der Untertitel der Neuauflage des Buchs Neuer Antisemitismus?, in der die Aufsätze von Daniel Goldhagen und Jeffrey Herf keine Aufnahme mehr gefunden haben, müsste angesichts des Nachtrags, den Judith Butler beigesteuert hat, jedenfalls lauten: ‚Akademische Fortsetzung einer globalen Debatte über den neuen Antisemitismus nebst Aufrufen zu dessen direkter Förderung‘. Im Vorwort schreiben die Mitherausgeber Doron Rabinovici und Nathan Sznaider über den neuen Beitrag von Judith Butler, der ihren alten für die erste Auflage an Feindschaft gegenüber Israel bei weitem übertrifft und sich mit ausgemachten Antisemiten gemein macht: „Judith Butler ruft dazu auf, sich durch BDS mit der palästinensischen Nationalbewegung zu solidarisieren, um den antirassistischen Kampf voranzutreiben und meint, so auch jenen Antisemitismus zu bekämpfen, der jüngst in Pittsburgh wütete. Dabei bemerkt sie in ihrem Beitrag durchaus, dass ihr Appell in den USA anders klingen mag als in deutschen Ohren – und tatsächlich wirkt der antiisraelische Boykott in Gaza ganz anders als in Berkeley, da wiederum ganz anders als im Paris der islamistischen Attentate gegen Juden und dort nochmals nicht so wie in Wien oder in Berlin, wo bei vielen noch andere Assoziationen, ob berechtigt oder nicht, geweckt werden.“ Welche Assoziationen mögen hier gemeint sein? Vielleicht: „Kindermörder Israel“?

Carla Henius: Adorno als musikalischer Lehrmeister

Der Unsinn, die musikalische Welt in Tradition und Moderne aufzuspalten und womöglich das eine gegen das andere auszuspielen, ist wenigstens theoretisch längst überwunden. Trotzdem wird monoton wiederholt, daß zum Beispiel ein Pianist, der Stockhausen spielt, keinen Schubert bewältigen kann, daß die neue Musik die Stimmen ruiniere – als ob eine Quinte oder Dezime bei Mozart etwas anderes sei als der gleiche Intervallschritt bei Webern – oder daß man allenfalls vom „Tristan“ aus dem frühen Schönberg begreifen könne, aber nicht umgekehrt Schumann und Beethoven näherkommen, weil man etwas von Neuer Musik weiß. Gegen diesen Stumpfsinn zog Adorno besonders gern zu Felde und sah es mit grimmiger Genugtuung, wenn er andere ebenfalls dazu anstiften konnte.

Martin Blumentritt: Adorno, der Komponist als Philosoph

Da Adorno – anders als Nietzsche – kein dilettierender, auch-komponierender Philosoph war, sondern sein Handwerk beherrschte, drängt die Frage sich auf, wie es mit dem philosophierenden Komponisten sich verhält und auf welche Weise sein Komponieren Licht auf seine Philosophie wirft. Wer einmal die Musikalität von Adornos wissenschaftlicher Prosa vernahm, der vermisst sie in der zur homophonen Kommunikationstheorie depotenzierten Theorie, die an Adorno anzuknüpfen intendierte, deren Darstellung, gleichsam Mimesis ans Tote, von der professionellen Langweilerei der Hauerschen Dodekaphonie sich nicht unterscheidet. Die abstrakte Negation der Tradition zugunsten abstrakter Ordnung, welche die Theorie wie die Kompositionstechnik vollzieht, sei’s in der formalistischen Konstruktion des Normativismus, sei’s in der Substitution der Tonalität durch nominalistische Kompositionsprinzipien, manifestiert sich in der ästhetischen Form.

Martin Puder: Zur Ästhetischen Theorie Adornos

Die Ästhetische Theorie ist das umfangreichste, zugleich aber das am wenigsten kommunikative Werk Adornos. Übersichten, klare Kapitelaufteilungen, längere Polemiken oder Interpretationen, wie sie die Negative Dialektik noch reichlich enthielt, fehlen ganz, und nicht einmal läßt sich fixieren, was das Motiv des Sich-Verschließens ist. Ist die extreme Ungreifbarkeit eine Reaktion auf die Brutalität scheinbar Gleichgesinnter, die Adorno in seinen letzten Lebensjahren erfuhr? Oder entwickelte er eine spezifische Form des Altersstils, über dessen „Logik des Zerfalls“ das Buch ja vielfältig meditiert? Hängt es mit den späten Provokationen des Positivismus zusammen, daß die Ästhetische Theorie fast lustvoll das Widerspruchsverbot durchbricht – oder soll der Verzicht auf ein Gedankenkontinuum das Buch seinem Gegenstand, der Kunst, anähneln? Am wenigsten wahrscheinlich ist es, das Dunkle mit dem fragmentarischen Zustand des Manuskripts zu begründen, dem der dritte Arbeitsgang noch bevorstand. Aber ignoriert werden darf auch dieser Aspekt nicht. In die Irre dagegen führt jede Erklärung, die das Konzept des Elitären anbringt, was einmal durch Hans Mayer geschah und inzwischen das einschnappende Argument der Bescheidwisser gegen Adorno wurde. Soll der Begriff „elitär“ mehr sein als ein Wortprügel, der alles irgendwie Komplexe oder nicht Integrierte trifft, so meint er Führungsansprüche, die sich aus der Behauptung anthropologischer Qualitätsunterschiede herleiten. Elitäres Denken arbeitet immer mit fixen Auffassungen von der Natur des Menschen, und Adorno haßte deshalb weniges so wie prinzipielle Anthropologie. Er sah die Deformationen und Differenzierungen der einzelnen als gesellschaftlich Gewordenes und Aufzuhebendes, nicht als naturgegebenes Schicksal oder als Rechtsgrund von Privilegien. Liest man die Sätze Adornos, die oberflächlich nach Massenverachtung klingen, genau, ist ihr wahrhaft anti elitärer Gehalt unverkennbar.

Lukas Kurth: „Eher als Maschine denn als Menschen …“ Subjektivität und zweckgerichteter Charakter bei Sherlock Holmes

Insofern lassen sich die Geschichten um den Meisterdenker aus der Baker Street immer auch als literarischer Kommentar zu einer philosophischen Debatte und gesellschaftlichen Konjunktur verstehen: In seinem positivistischen, rein instrumentell-zweckgebundenen Denken bekennt sich die Figur Holmes nicht nur zu einer bestimmten Form von Rationalität; zugleich vereint er auf sich all jene Eigenschaften, die dem in die Subjektform gepressten Individuum von der wert- und warenförmigen Gesellschaftsformation des ausgehenden Liberalismus abgerungen werden. Doch Holmes erweist sich nicht nur hinsichtlich seiner mühselig internalisierten Verhaltensweisen – die in leicht abgewandelter Gestalt nach wie vor Gültigkeit beanspruchen können – als Archetyp des modernen kapitalistischen Subjekts, sondern auch, weil ihm der Transfer der dem Produktionsprozess entsprungenen instrumentellen Denkanforderungen auf sämtliche Lebensbereiche, die Verlängerung der Arbeitsmethode ins Private hinein, gelingt. Nicht nur, dass Holmes seine eigene Person vollständig in den Dienst seiner Detektivarbeit stellt; getreu dem liberalen Bildnis des sich in seiner Arbeit selbstverwirklichenden Subjekts empfindet er die bruchlose Identität von Arbeit und Leben gar als eine zu affirmierende, lustvolle. Aufgrund der sublimierenden Wirkung, welche die Arbeit für ihn hat, muss Holmes in seiner Vorstellung arbeiten, um leben zu können, da erst der durch die Produktivität erzielte Lustgewinn das Leben lebenswert macht. Indem die Arbeit – darin dem Drogenrausch ähnlich – in seinen Augen zuvorderst Lust und Glück suggeriert, gelingt ihm eine Triebbesetzung, die jedes Warensubjekt der Idee nach wollen muss: Arbeit als höchster, da luststiftender Sinn des Lebens.

Florian Müller: Vom Trieb zum Begehren. Über das Verschwinden des Ödipus

Der Begriff des Begehrens, der weniger mythisch und unbestimmt anklingt, aber auch vom Anstößigen der Triebe bereinigt ist, soll es offenbar ermöglichen, die Sexualität nicht nur von ihren biologischen Restbeständen zu befreien, sondern auch deren Entstehung explizit sozialisationstheoretisch zu begreifen. Mit Rekurs auf Butler und Laplanche, der sich zwar vom Strukturalismus Lacans distanziert, ihn aber nicht überwindet, wird eine Revision der Freudschen Trieblehre unternommen, um die Sexualität im psychoanalytischen Diskurs zu retten, doch erscheint sie eher als Wunsch im Begehren, eine reine Liebe und Sexualität zu erhalten, die, vom Trieb gereinigt, alles Anstößige beseitigt hat. Von Leidenschaft, die in ihrer Doppelseitigkeit auch das Leid bereits im Begriff enthält, ist schon längst keine Rede mehr.

Simon Gansinger: ‚Sie lieben den Wahn wie sich selbst‘. Zur Psychoanalyse der antisemitischen Paranoia

Die totale projektive Lösung, die den Antisemitismus auszeichnet, kulminiert in der Rückkehr des Verdrängten oder in der Vernichtung des Objekts – und in beiden Fällen bleiben die abgewehrten Inhalte bestehen. Insofern stürzt die antisemitische Paranoia ins triebökonomische >deficit spending<: Die subjektive Krise soll durch Ausschüttung von stets neuer Aggression überwunden werden. Der Kampf gegen die imaginäre Gefahr, den der anfangs zitierte >Patriote< beschwört, darf kein Ende nehmen, denn er garantiert, dass die Geister, die man rief, andernorts Beschäftigung finden. Es ist dies die archaische Logik des Krieges: Solange die Truppen im Feindesland marodieren, brandschatzen sie nicht das eigene Dorf. Würde der vom Antisemiten mobilisierte Hass die Heimkehr antreten, sich vom Objekt auf das Subjekt wenden – es würde die Implosion des Antisemitismus bedeuten. In diesem Zusammenhang dürfen wir wohl einige Bedeutung dem Umstand zusprechen, dass aus der Klinik keine Fälle von depressiven Antisemiten bekannt sind. Das ökonomische Prinzip des Antisemitismus scheint nicht kompatibel mit dem masochistischen Hass der Depression; womöglich ist die Depression gar das einzige Mittel des Ichs gegen die antisemitische Paranoia.

Nikolai Schreiter: Nicht an der Seite, an der Stelle Israels wollen sie sein. AfD, FPÖ und die Identifizierung mit dem imaginierten Angreifer

Der vorliegende Fall liegt aber etwas anders, weil das Interesse, das die europäischen Rechtsextremen mit Israel zu teilen glauben, ein sehr spezielles ist. Die ganze proisraelische Haltung fußt zunächst auf antisemitisch grundierten Bildern von Israel, wie die Analyse seiner doppelten Charakterisierung gezeigt hat: einerseits ‚Jude unter den Staaten‘, dem so Autorität zugesprochen wird, andererseits geopolitische Reproduktion des Ausnahmejuden. Außerdem, und das wiegt schwerer, liegt das Interesse darin, sich selbst an die Stelle Israels zu setzen: An die Stelle des von allen Seiten bedrohten Opfers, das gleichzeitig stark genug und aufgrund der allseitigen Angriffe legitimiert ist, sich stark, militärisch und nationalistisch zu verteidigen. Man möchte sich selbst in der schlagkräftigen Opferrolle verbarrikadieren und imaginiert Deutschland, Österreich oder Europa als Spielball der „globalisierten Klasse“, die „die Informationen kontrolliert“ und der man als „bürgerliche Mittelschicht“ und „sogenannte einfache Menschen“ gegenüberstehe. Die viel diskutierte Frage, ob Gauland in der zitierten Rede Adolf Hitler paraphrasierte oder dieses am Antisemitismus angelehnte Ressentiment alleine entwickelt hat, ist dabei nebensächlich. Indem sie sich selbst als Opfer stilisieren und mit Israel identifizieren, stellen sie den Antisemitismus auf eine Stufe mit vermeintlichen oder auch tatsächlichen Bedrohungen, von denen aber keine einzige in ihrer Bedrohlichkeit dem Antisemitismus auch nur ansatzweise nahekommt. So wird über die Identifizierung mit Israel der Antisemitismus verharmlost.

Dr. S. Kliwansky: Zur Kritik der Nationalökonomie

Es reicht aber nicht, daß der König der Meinung ist, er sei von Gottes Gnaden. Die Untertanen haben das entscheidende Wort. Auch sie müssen der Ansicht sein, sonst erhebt sich der König von Gottes Gnaden in den Himmel, und auf der Erde bleibt ein konstitutioneller Monarch, ein Paragraph der irdischen Konstitution. Die ganze Idee des Gottesgnadentums zeigt sich als ein juristischer Fetischismus, der dadurch entsteht, daß man in die Person jene Eigenschaften verlegt, die außerhalb ihrer liegen. Das geschieht aber nur dann, wenn man den König aus dem Untertanenverbande herausreißt. Schon hier begegnen wir dem Problem des Fetischismus, obwohl hier Personen figurieren. Bei den Sachenrechten ist der Fetischismus gerade so klar wie in der Nationalökonomie ausgeprägt. Der Nationalökonom kommt zu seinen Definitionen, weil er die Sache isoliert betrachtet, während sie nur in gewissen Verhältnissen den Repräsentanten von Beziehungen zwischen Menschen bildet. Er trägt die Idee des Gottesgnadentums in die Nationalökonomie hinein.

Aljoscha Bijlsma / David Hellbrück: „Mitten inne zwischen“. Anmerkungen zu Semion Kliwanskys Kritik der Nationalökonomie

Denn Kliwansky versucht, ganz im Sinne von Marxens Methode der (immanenten) >Kritik der politischen Ökonomie<, die Nationalökonomie an ihrem eigenen Anspruch – wenn schon nicht mehr auf Wohlstand für alle, so doch immerhin noch auf positive Wissenschaftlichkeit – zu messen und daran schließlich zu blamieren. Er kann anhand der paradigmatisch für die ganze Nationalökonomie stehenden Aussage Gustav Schmollers, die Nationalökonomie stehe „mitten inne zwischen“ Natur- und Geisteswissenschaften, zeigen, dass schon diese uneindeutige Positionsbestimmung dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit spottet. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Wissenschaft, wegen ihres affirmativen Charakters, eine kritische Einsicht in den produktiven Grund kapitaler Gesellschaft verwehrt bleibt. Gleichzeitig werden aber an der Verwendung und Explikation der Begriffe durch Kliwansky seine eminenten Schwierigkeiten mit diesen deutlich, vor die sich eine Kritik des Kapitals auf der Höhe seines eigenen Begriffs gestellt sieht: So verweist Kliwansky zur Explikation des Begriffs der Realabstraktion auf das Schachspiel und analogisiert die Spieleigenschaften der Figuren mit dem Wert, um den Unterschied der klassischen politischen Ökonomie zu ihrer Kritik zu demonstrieren. Der Vergleich hinkt. Wenn die Analogie wahr sein sollte, müssten sich die Schachfiguren verselbstständigen und die Menschen zu einem Anhängsel ihrer eigenen Machenschaften erniedrigen; der Zweck des Kapitals jedoch, Verwertung um der Verwertung willen, lässt sich in einer solchen Analogie nicht einmal ansatzweise einfangen. Obgleich sich Kliwansky um das Problem seiner Beispielsätze im Klaren ist – sobald er sich in der „Eiswüste der Abstraktion“ (Adorno) bewegt, die sich der Beispielhaftigkeit entzieht – lässt er sich dennoch wiederholt zu solchen hinreißen. Erstaunlich ist zweifelsohne, wie Kliwansky im Jahr 1915 auf diese Begriffe stoßen konnte, einige Jahrzehnte vor der >Neuen Marx-Lektüre< und auch ein paar Jahre vor Friedrich Pollocks werttheoretischen Überlegungen.

Gerhard Scheit: Wertgesetz, Weltmarkt und Judenhass. Über einige Voraussetzungen, den Wahn der Autarkie zu kritisieren

Soweit nun im Kapital im Zusammenhang mit der Zirkulation auf dem Weltmarkt von den „internationalen Werten“ der Waren die Rede ist, wird vorausgesetzt, dass es sich zwar um den Vergleich verschiedener Stufen nationaler Arbeitsintensität handelt, dies sich hier „in einer unbegrenzten“, das heißt: von einer einzelnen Nation nicht begrenzten „Reihe verschiedner Gebrauchswerte“ darstellt. Umgekehrt ist es die durchaus begrenzte Reihe der Gebrauchswerte, in der sich die nationale Arbeitsintensität innerhalb der Nation selbst darstellt, die gerade den Schein erzeugt, dass die konkreten Arbeiten nicht vollständig in jener gespenstischen Gegenständlichkeit verschwinden, vielmehr dieses Abstrakte der Wertsubstanz schon in seiner Voraussetzung, in der mechanischen, zerstückelten, inhaltlich leeren aber doch physiologisch wahrzunehmenden Tätigkeit liegen müsste und darum auch zu bejahen wäre. Nur im Horizont nationaler Arbeitsintensität kann die Illusion aufrechterhalten werden, oder besser: das fetischistische Bewusstsein, es handle sich um keine Verselbständigung des Werts als Kapital, und nur so können die der „Intensifikation“ unmittelbar Ausgesetzten im Angesicht des Souveräns noch immer sagen: „Wir sind das Kapital“, denn wir machen all diese mechanische, zerstückelte, inhaltlich leere und so gesehen abstrakte Arbeit, die trotz der stets vielbeschworenen Automatisierung und Digitalisierung nicht zu verschwinden sich anschickt. Mit anderen Worten: Erst die Reflexion auf den Weltmarkt ermöglicht der Kritik der politischen Ökonomie einen radikalen Begriff abstrakter Arbeit, der sich von der Illusion befreit hat und dem Fetisch widerspricht, die konkreten Arbeiten könnten als konkrete in der Substanz des Werts irgendwie aufbewahrt und damit auf gerechte Weise gegeneinander getauscht werden.

Manfred Dahlmann: Der Wert und die Ideale. (Un-)Moralische Perspektiven

Die Instanz, die in vorbürgerlichen Gesellschaften für die geistige Vermittlung der Individuen zu einer Gesellschaft verantwortlich war, und diese Rolle spielte hier die Moral, die Ethik, die Tugendlehre, die führt in der bürgerlichen Gesellschaft ja tatsächlich ein eigenartiges Schattendasein. Und weil das so ist, deshalb können ein Nietzsche und ein Heidegger überhaupt nur so viel Anklang finden, eine derartige Faszination auf die Bürger ausüben. Dass die Ethik irgendetwas für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft leistet, ist ja tatsächlich eine pure Einbildung interessierter Kreise, die davon leben, dass sie für ihre theoretischen Absonderungen bezahlt werden. Die Rolle, die die Ethik in dieser Gesellschaft spielt, ist wirklich keine andere als die, dass sie im Nachhinein rechtfertigt, was die Märkte an Faktischem vorgegeben haben. Weder die Ethik noch der Staat oder das Gesetz synthetisiert die einzelnen Individuen in das Ganze: sondern diese Gebilde sind Ausdruck einer ganz anderen, für sich selbst vollkommen unsichtbar, das heißt abstrakt bleibenden Vermittlung: diese Wahrheit ist die gesellschaftlich tatsächlich gegebene Grundlage, von der aus die Existentialisten argumentieren. Für alle Probleme, mit denen wir uns herumschlagen, hat etwa Nietzsche eine einzige Antwort parat: Man muss aufhören zu glauben, das Befolgen der vom Christentum vorgegebenen Werte (insbesondere das Mitleid mit dem Mitmenschen, dessen Verfallsform dann für Nietzsche und Heidegger und Foucault der Humanismus darstellt) könnten irgendwie zur Problemlösung beitragen, im Gegenteil: sie sind die Ursache des Übels.