sans phrase - Zeitschrift für Ideologiekritik

Heft 19, Winter 2021/22

Lea Wiese: (Un-)Doing Psychoanalysis in Tehran. Gedanken zur Psychoanalyse unter iranischen Verhältnissen

Und doch scheint die Psychoanalyse in der ›Islamischen Republik Iran‹ sowie das internationale Interesse an ihr, vor allem innerhalb der lacanianisch orientierten Psychoanalyse, zu erstarken, wie mehrere Publikationen aus den letzten Jahren zeigen. Einen Anstoß hierfür dürfte das 2012 erschienene Buch Doing Psychoanalysis in Tehran der im Iran geborenen, in Kanada aufgewachsenen und in den USA ausgebildeten Psychoanalytikerin Gohar Homayounpour gegeben haben, in dem sie ihre Erfahrungen der beruflichen Rückkehr in ihr Geburtsland und aus der in Teheran eröffneten Privatpraxis schildert. Das Titelbild zeigt ein elegantes Praxisinterieur im Bauhausstil mit Fensterblick auf einen Teheraner Vorort, der Einband ein Bild der auf ihrer Analysecouch sitzenden Autorin mit einem locker um den Kopf geschlungenen Shawl. Titel und Optik scheinen bereits anzudeuten, was die im Klappentext des Buches zitierten Testimonials versprechen: Dass hier der »Iran auf die Couch gelegt« werde (Rubén Gallo). Rezensionen in einschlägigen Fachzeitschriften äußern sich durchgängig positiv über Homayounpours Ausführungen. Eine expansive Erfolgsgeschichte: So fand zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Buches, unter der Schirmherrschaft von Homayounpours »Freudian Group of Tehran«, der internationale psychoanalytische Kongress »Geographies of Psychoanalysis. Encounters between Cultures« in Teheran statt. Hat sich also die historische Bindung der Psychoanalyse an die ›westliche‹ Autonomie der Einzelnen, an ›westliche‹ Staatsform und Bürgertum als bislang naiv verkannte Scheinkorrelation entpuppt? Und kann die Expansion der Psychoanalyse in den Mittleren Osten als Siegeszug ihres aufklärerischen Impetus, gar als kritischer Funke im Dunkel der theokratischen Despotie in Ländern wie dem Iran verstanden werden?

Jonathan Ariel: Die wirkliche Lektion des Afghanistan-Debakels

Hätten die USA Pakistan noch im Juni 2021 klargemacht, dass ein friedlicher und geordneter Abzug aller US-Soldaten und ihrer afghanischen Verbündeten, die das Land verlassen wollen, zur Hölle führen würde, wenn sie nicht sicherstellen, dass die Taliban dies zulassen, wäre es nie zu diesem Debakel gekommen. Die Vereinigten Staaten verfügen über nahezu unbegrenzte Einflussmöglichkeiten auf Pakistan, von der Verhängung weitreichender Sanktionen bis hin zu der Androhung, Indien grünes Licht für die Rückeroberung der Teile Kaschmirs (GilgitBaltistan) zu geben, die seit 1948 unter nicht anerkannter pakistanischer Besatzung stehen. In militärischer Hinsicht ist der Hauptgrund dafür das iranische Raketenprogramm, das zwar immer noch ausschließlich mit konventionellen Sprengköpfen ausgestattet ist, Israel aber offenbar ausreichend abschrecken konnte. Und das, obwohl Israel über das einzige voll funktionsfähige mehrschichtige Raketenabwehrsystem der Welt verfügt (Arrow, David’s Sling und Iron Dome). Dies ist jedoch nicht der einzige Grund, denn militärisch ist Israel in der Lage, beide iranischen Stellvertreter zu besiegen. Um die Hamas zu zerstören, müsste Israel wieder den Status einer Besatzungsmacht für den Gazastreifen einnehmen oder im Voraus sicherstellen, dass eine multinationale Truppe zur Verfügung steht, die in der Lage ist, die Verantwortung für den Gazastreifen zu übernehmen. Eine solche Truppe wird es in nächster Zeit wahrscheinlich nicht geben. Eine einseitige israelische Besetzung des Gazastreifens ist zwar möglich, würde aber wirtschaftlich, diplomatisch und in der öffentlichen Meinung einen unerschwinglichen Preis fordern.

Gerhard Scheit: Carl Schmitt und die freiheitsliebenden Taliban

Die Politik, die heute von der Kommunistischen Partei Chinas betrieben wird, erscheint vor diesem historischen Hintergrund eigenartig gespalten: Sie wirkt als >willentlicher< Beschleuniger, was den imperialistischen Versuch betrifft, den Weltmarkt von ‚innen‘, von den Verträgen her zu zerstören und den US-Hegemon durch Großraumpolitik beiseitezuschieben; aber als Beschleuniger wider Willen, was die Bedrohung Israels anbelangt, wie das Verhältnis zum Islam im Allgemeinen und zum Iran im Besonderen zeigt – wobei hier das Besondere die fast schon erreichten Kapazitäten sind, in dem für den Islam beanspruchten Großraum des Nahen Ostens den Staat der Überlebenden der Vernichtungslager auszulöschen.

Christian Thalmaier: Die Farbe der Robe. 70 Jahre höchstrichterlicher Rechtsfetischismus

Souveränität ist im Grundgesetz des neuen deutschen Leviathans also gut versteckt. Sie lugt hinter der »Würde des Menschen« in Art. 1, also des allgemeinen Menschen überhaupt, einer Abstraktion, nur ab und zu hervor wie Rumpelstilzchen, das bis zum bitteren Ende drauf hofft, dass niemand seinen Namen kennt. Weder darf man also bei der Würde »des Menschen« an die bedürftigen und quälbaren einzelnen Menschen denken, noch beim Begriff der Würde an Immanuel Kant. Denn was der Parlamentarische Rat unter Würde verstand und auch die Methode, mittels derer das BVerfG, etwa im Urteil vom 21. Juni 1977 zu den verfassungsrechtlichen Grenzen lebenslanger Freiheitsstrafe, den Begriff mit allerlei ethischen Kalkulationen stopfte, hat mit dem kategorischen Imperativ Kants und seiner Ableitung der Würde aus der Fähigkeit der Menschen zur Freiheit und zur Autonomie wenig zu tun. Darum wird man sich nicht wundern, dass der vom Verfassungskonvent ursprünglich vorgesehene Wortlaut des Art. 1 des Grundgesetzes vom Parlamentarischen Rat abgelehnt wurde. Der Vorschlag lautete: »Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.« … Anders als etwa die französische Verfassung der V. Republik vom 4. Oktober 1958, die der Souveränität gleich zu Beginn einen eigenen Titel mit drei Artikeln widmet, kommt der Begriff der Souveränität im Grundgesetz kein einziges Mal vor. Deliberativ sollte die Bonner Republik sein und ihr Grundgesetz daher von Anfang an eine Einladung an alle, jeden Gegensatz der Interessen, jede schmerzliche Erinnerung an eine Zeit der Klassenkämpfe und den unaufhörlichen Kampf um Meinungsführerschaft nach Möglichkeit in ein bloß rechtliches Problem zu transformieren und sodann als rechtlichen Meinungsstreit oder Rechtsstreit auszutragen.

Joachim Bruhn: Das Antideutsche im Kommunismus. Im Gespräch mit Werner Pomrehn, 2010

Man muss aber auch historisch sehen, dass die deutsche Sozialdemokratie trotz verschiedentlicher Bemühungen, im Nachhinein ihre Geschichte zu renovieren, von Anfang an eine lassalleanische Partei gewesen ist, die auf der ganz falsch verstandenen hegelschen Staatsvergötterung aufbaut. Ferdinand Lassalle ist ja der Urvater der Sozialdemokratie und es wurde von Anfang an die marxsche Staatskritik ignoriert. Das ist es, was 1914 hervorbricht, und was die SPD natürlich niemals losgeworden ist. Es ist ein Mythos, dass die SPD jemals eine marxistische Partei gewesen sei. Das ist schon deswegen falsch, weil sie die marxsche Kritik an der Form Partei grundlegend ignoriert. Und das ist genau der Lassalleanismus, der dann nachher von den Leninisten übernommen wird, und der 1917 in Russland in der ersten sozialdemokratischen Planwirtschaftsrevolution in der Geschichte zum Durchbruch kommt. Man weiß ja, dass Lenins Begeisterung für die deutsche Post kein Zufall war; dass eben der Staatskult dort bis zum Äußersten getrieben wurde, was eben in der Geschichte nur Leute wie Anton Pannekoek, die Rätekommunisten überhaupt, Rosa Luxemburg und einige wenige andere klar gesehen haben. Von daher ist es auch verständlich, dass in demselben Augenblick, in dem eine lassalleanische, etatistisch-sozialdemokratische Macht verloren geht, der Rücksturz in die, ich sage mal, friedlich-schiedliche Staatsillusion stattfindet.

Albert Memmi: Man sagt die Sonne, man sagt das Meer

Man betrachte doch ein Kaktusfeld, wenn der Sommer zu Ende geht: Versengt und grau erfährt es die Wahrheit des göttlichen Fluchs, wird wieder zu Staub, vermengt sich damit und wird sich in kurzem verflüchtigen, ohne stärkere Spuren zu hinterlassen als ein bißchen Staub auf der schrundigen Erde. Diese Verurteilung zu Unbeweglichkeit, zum Ersticken, zum restlosen Ausgesogenwerden, so daß der Tod unvermeidlich wird, gehört ebenfalls zu den großen Lehren der Sonne: Sie gibt dem Leben Rhythmus und auch dem Tod, dem nichts entgeht. Selbst ihr Lieblingskind, die üppige, geschwellte, vom kostbarsten Gut, dem Wasser, gesättigte Tomate, ist vergänglich, platzt bald auf, so daß ihre Eingeweide bloßliegen, verfault, verdorrt, wird für alle Zeiten gegerbt wie eine Mumie.

Albert Memmi: Das Reich der Armen

Die Müdigkeit und der Ekel bewirken, daß Gesichter und Nöte zu verschwimmen beginnen. Eine Tür, die aufgeht und Dunkelheit herausströmen läßt, zusammen mit einer Horde Kinder jeden Alters, die ihre Augen weit aufsperren. Da Vater und Mutter blind sind, leben die Kinder seit ihrer Geburt im Dunkeln. Ein Greis, der in einem von Ungeziefer verseuchten Verschlag unbeweglich auf einem nackten eisernen Bettgestell liegt und unsere Fragen unbeantwortet läßt. Diese Zimmer, wo aufgehängte Wäsche zu trocknen vorgibt, wo die Feuchte der Luft, der Modergeruch uns den Atem benimmt. Die Kinder haben dicke Köpfe und hervorstehende, glänzende Augen.

Florian Hessel: Bemerkungen zu zwei Texten Albert Memmis

Es ist nicht irgendein Viertel, das Memmi gemeinsam mit dem Schulvorsteher an jenem regnerischen Nachmittag durchschreitet, die Armut, die er zu besichtigen sich aufnötigt, nicht die allgemeine – obwohl, so dürfen wir Memmis Mitteilung an die Redaktion verstehen, das Elend nicht den Juden exklusiv ist und allzu viele Mitglieder der tunesischen Gesellschaft (Muslime, Berber, Spanier usw.) in solchen Verhältnissen der Armut lebten. Es ist die jüdische El-Hara – Verhältnisse, die über Memmis Kindheit und Bildungsjahre ihren Schatten warfen: eingezwängt in die stets ambivalente Stellung, in die die Juden in der kolonial hierarchisierten Gesellschaft gedrängt wurden, bedroht von moslemischen Pogromen, verfolgt von deutschen Besatzern, geschlagen vom doppelten Verrat des aufgeklärten Frankreichs unter dem Vichy-Regime wie den Forces françaises libres, das den Juden jeden Schutz verweigerte und ihnen später nur die Rückkehr zu kolonialer Unterordnung bot.

Rainer Bakonyi: Dem Herrn Kulturredakteur widerfährt so etwas wie Erfahrung

Vorbei an den nahezu fertiggestellten Einfamilienhäusern auf dem Gelände der einstigen Häftlingsbaracken gelangte er, nunmehr wieder im älteren Stadtteil Frauenland, vor einen trögen Klinkerbau, wo sich nach Ausweis zweier Anschlagstafeln der Heimat- und Volkstrachten-Verein 1903 Weinstadt, augenscheinlich ein, wohl bereits den Nazis zu piefig-konservativer, altfränkischer Schutztrupp, die Adresse Richard-Wagner-Straße Nr. 60 mit dem Salon77 teilt, einer vor allem dem Tanze, aber auch der Durchführung eines gut besuchten, jährlich abgehaltenen Kunstgewerbemarkts verpflichteten, soziokulturell orientierten Künstlerinitiative. Jäh durchzuckte es ihn: Organisierte Banausie! Er hatte das wohl leise, aber anscheinend doch zu vernehmlich ausgesprochen, worauf ein höflicher junger Herr, der eben – von ihm zuvor gar nicht wahrgenommen – mit der Befestigung eines Kindersitzes an seinem Fahrrad beschäftigt war, ihn ansprach und freundlich Hilfe anbot: Wen suchen Sie denn? Wir kennen uns hier in der Nachbarschaft eigentlich alle recht gut. In seiner Verwirrung erwiderte er: Adorno … Adorno? Kommt mir schon bekannt vor, aber … Der hilfsbeflissene Herr strich sich durch den sorgfältig gepflegten Bart: Nein, da kann ich Ihnen leider gar nicht weiterhelfen, Adornos wohnen sicher nicht hier, das wüsste ich … Vielleicht ja gleich drüben im Richard-Strauss-Weg, da ist ein Senioren-Wohnheim. Dort, an der Ecke zur Sudetenstraße! Er machte sich höflich dankend auf den mit schraubenschlüsselhaltender Hand gewiesenen Weg, von dem er wusste, soweit war zumindest seine räumliche Orientierung doch noch vorhanden, dass er ihn ohnehin auf kürzestem Wege nach Hause führen würde. Dort recherchierte er dann erst einmal im Internet über den Begriff der Banausie.

Georges-Arthur Goldschmidt / Peter Stephan Jungk: Die Frohe Nabelschau

Peter Stephan Jungk: Wie geht’s Ihnen heute?

Georges-Arthur Goldschmidt: Mir sollte es normalerweise schlecht gehen, aber mir geht’s ausgezeichnet. Ich spiele immer den eingebildeten Kranken wie bei Molière. Ich hatte allerhand, aber es geht mir sehr gut. Ich hatte Covid und alles Mögliche, aber es geht mir sehr, sehr gut eigentlich.

PSJ: Wunderbar.

GAG: Wir stehen, meine Frau und ich, so gegen 10 oder 11 Uhr auf, da ist schon der Tag ziemlich angebrochen. Ich schreibe noch, aber immer weniger und vor allen Dingen: ich vertippe mich ständig, sodass das Schreiben richtig schwierig wird, und meine eigene Schrift kann ich nicht mehr lesen. Es ist unmöglich. Alle Leute sagen, es sieht schön aus, aber es ist unlesbar. Und mit dem Computer ist es noch schlimmer, weil ich mich ständig vertippe. Aber ich hab nichts mehr zu sagen, ich hab alles von mir selber ausgeforscht. Das einzige Thema meines Schreibens ist mein eigener Nabel. Ich bin kein Schriftsteller in diesem Sinne. Ich bin ein Selbstbetrachter, aber sonst, ich kann nicht wie Sie zum Beispiel über andere Menschen schreiben. Ich bin viel zu sehr in mich eingeschlossen, das kommt wahrscheinlich auch vom Exil. Die absolute Unsicherheit der Kindheit – nehme ich an.

PSJ: Gut, aber andererseits haben Sie zuletzt ein Buch publiziert, das mir persönlich sehr viel bedeutet, nämlich zum ersten Mal ein Buch, in dem Sie über Ihren Bruder schreiben. Wie kam es dazu? Das ist ja nicht nur über Sie, sondern sehr wohl auch über Ihren Bruder Erich.

GAG: Das kam, weil mein Verleger bei Wallstein, Thedel von Wallmoden, mich mal angerufen und gesagt hat: »Ja, aber es ist komisch, Sie reden nie über ihren Bruder!«. Und das ist mir gar nicht aufgefallen. Und plötzlich war das wie ein Elektroschock und ich hab verstanden, dass mein Bruder und ich in entgegengesetzten Welten lebten. Ich weiß nichts von ihm; er hat alles verschwiegen, er hatte ein fürchterliches Leben – durch mich. Ich hab ihm sein Königsreich als vierjähriger kleiner Junge zerstört und dann kam die Hitlerei – er hatte ein entsetzliches Leben von dem ich nichts weiß. Aber er wurde dann französischer Offizier und hat sich dummerweise am Putsch gegen de Gaulle beteiligt.

PSJ: In Algerien?

GAG: In Algerien. Er kam nicht ins Gefängnis, aber konnte dann nicht mehr aufsteigen und ist bis zum Lebensende nicht Oberstleutnant, sondern Major geblieben. Aber ganz am Ende seines Lebens bekam er die Ehrenlegion und das war für ihn das absolute Glück. Kann ich auch verstehen, er fühlte sich dermaßen in die französische Nation integriert, dass er das als ultime Etappe seines Lebens betrachtet hat.

Theodor W. Adorno / Robert Minder: Zwei Briefe

Lieber Freund Minder,

so traurig ich bin, daß sie bei der Veranstaltung nicht zugegen waren, wo ich meine Ketzereien über Tradition vortrug – sicherlich ist der, welcher viel mehr versäumt hat, ich gewesen, weil ich nicht nach Tübingen kommen konnte. Mit wahrhaft brennendem Interesse habe ich den (gewiß unzulänglichen) Bericht über Ihren Vortrag in der FAZ gelesen. Ob es wohl möglich wäre, mir einen Durchschlag, oder so etwas, zugänglich zu machen? Noch aus dem Bericht habe ich entnommen, wie vollkommen unsere Intentionen übereinstimmen, und das ist in diesem Fall von besonderer Wichtigkeit, weil ja Methode und Ausgangspunkt so völlig verschieden sind: Sie haben sich in strikt historischen Zusammenhängen bewegt, ich in spekulativ-philosophischen und ästhetischen, aber die letzteren haben mich ebenso wie Sie auf jenes Moment als Wahrheitsgehalt der Hölderlinschen Dichtung geführt, das man vielleicht am ehesten das utopische nennen könnte. Wir haben sozusagen die Heideggerei in die Zange genommen und die deutsche Eintracht mitten ins Herz getroffen, und das sollte, an einem derart allergischen Punkt, auch seine Folgen haben. –

Frank Müller: Kritische Korrespondenzen. Theodor W. Adornos und Robert Minders Heideggerkritik

Minder ist also in der Zeit, als er den Kontakt mit Adorno suchte, bereits im Begriff, seine eigene Heideggerkritik in essayistischer Form zu formulieren. Adorno nimmt Minders Initiative begeistert auf, erinnert an die Möglichkeit, selbst in Frankreich publiziert zu werden, und er trifft Minder vermutlich auf einer Vortragsreise in Frankreich im Jahr 1958, die allerdings noch auf andere Einladungen zurückgeht. Unmittelbar danach beginnen über mehrere Briefe hinweg die Planungen für Minders Einladung ans Frankfurter Institut für Sozialforschung, wo Minder am 15. Juni 1959 einen Vortrag halten wird. Adorno berät Minder eingehend bei der Wahl des Themas und bis in die Formulierung des Titels hinein, wobei er auch seine Kritik am zeitweiligen Rückgriff Minders auf den Literaturhistoriker Josef Nadler, der im Nationalsozialismus seine Karriere steil fortsetzten konnte, nicht zurückhält, sondern Minders Vorgehen nur zu dem Zweck verstanden wissen will, dass durch ihn kultursoziologische Fragestellungen der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie entwendet werden.

Robert Minder: Heidegger und Hebel oder die Sprache von Meßkirch (2. Teil)

Der Philosoph und Polyhistor Heidegger markiert den Bauer, kehrt den Meßkircher heraus, pocht auf den schwäbischen Urkern seiner Herkunft. Im einzigen Gespräch, das ich vor Jahren mit ihm geführt habe, zuckte er entrüstet bei der Frage auf, ob er, der in Freiburg doziere und auf dem Todtnauberg hause, als Badener zu gelten habe: ein Stockschwabe sei er, war die Antwort, und ein Ausspruch über die zwei Menschenschläge illustrierte sie: »Wenn der Badener Wurst sagt, hat der Schwabe sie längst verschlungen.« Der Badener Hebel ist auf diese radikale Weise vom schwäbischen Philosophen verschlungen, verdaut und verheideggert worden, und dagegen sollte hier Einspruch erhoben werden. Denn Hebel gehört nicht zu Heidegger und nicht zum schwäbischen Heuberg: er gehört zum badischen Schwarzwald und zu jener Rheinebene, in der er den größten Teil seines Lebens zugebracht hat. Er gehört als Humanist und Kosmopolit in den Umkreis eines Mannes, den er zeitlebens verehrt und den Heidegger zeitlebens bekämpft hat: Goethe. Er ist gewissermaßen ein Goethe in Duodezformat, hoher Staatsbeamter und Dichter, treuer Diener seines Herrn und heimlicher Frondeur, eminent kritischer Kopf und wortverliebter Artist, toleranter Christ und urbaner Schüler der Antike wie jener Begründer der modernen italienischen Kunstprosa, Manzoni, dessen ländlichen Roman Promessi sposi Goethe 1825 mit der gleichen Begeisterung rühmte wie 1804 Hebels Alemannische Gedichte

Katrin G. Schuster: »… ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten?« Emanuel Ringelblum, das polnische Judentum und der Angelus Novus

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem militärischen Sieg der Alliierten kommt in Warschau ein Zeugnis dieses ›kalendarischen Denkens‹ ans Licht. 1946 und 1950 können Milchkannen und Kisten geborgen werden, die von Mitarbeitern des geheimen Untergrundarchivs Oyneg Shabes  – einer von ihnen war der 18-jährige Nahum Grzywacz – in der Erde vergraben wurden, gemeinsam mit der Hoffnung, dereinst nachfolgenden Generationen, entgegen dem alles bestimmenden ›Uhrwerk‹ der Nazis, jenen von Benjamin so genannten ›historischen Zeitraffer‹ vor Augen zu führen. »Betrachte nicht den Krug, sondern dessen Inhalt.«  Was aber hat es mit diesem Archiv, mit diesem Geschichtsbewusstsein auf sich? Mit dem Einmarsch der Deutschen entscheidet sich der Historiker Emanuel Ringelblum gegen eine ihm mögliche Auswanderung, um in Warschau zu helfen. Das Ghetto wird am 16. November 1940 errichtet – seitdem leitet er den »gezelshaftlekher Sektor« der Aleynhilf und gewinnt über diese Verbindung Mitarbeiter für jenes Oyneg Shabes, das sich formell am 22. November gründet. An Hersh Wasser schreibt Ringelblum, dass das Archiv Eigentum des gesamten jüdischen Volkes werden solle. Was der »Krug«, die Kannen und Kisten, an Inhalt bewahrt – Notizzettel, Plakate, Tagebücher, Dokumentationen, Aufsätze, Analysen, Kunst, Literatur –, ist aus dem Versuch entstanden, unter dem erdrückenden nationalsozialistischen Joch für die Nachwelt ein Bild der Vergangenheit einzufangen und zu überliefern, wie es sich den Mitarbeitern des Archivs im unmittelbaren »Augenblick der Gefahr« gezeigt hat.  Eine ›geschichtsphilosophische Praxis‹, deren Theorie Benjamin, wenn auch ohne direkten Bezug, in seiner letzten abgeschlossenen Arbeit Über den Begriff der Geschichte formuliert.

Gerhard Scheit: Die schwächste messianische Kraft: Warten auf Godot

Auf die Frage, warum wir erst heute, ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, das Stück zu verstehen beginnen, antwortet François Rastier im Grunde: Weil wir selbst zu Juden geworden sind. Zunächst sucht er sich zwar noch von der Philosophie Giorgio Agambens zu distanzieren, wenn er schreibt: »Die ethnischen Säuberungen auf dem Balkan und der Völkermord in Ruanda haben aus der nationalsozialistischen Vernichtung so etwas wie ein Paradigma der zeitgenössischen Kultur gemacht. Und über diese Kultur streiten sich die Partisanen des Pathos und der Ästhetisierung wie Steiner, Agamben oder Littel mit den Partisanen der historischen Luzidität wie Hilberg, Vidal-Naquet oder Thanassekos.« Doch er selbst ist es, der schließlich die empirische historische Lektüre umschlagen lässt in eine schlecht allegorische ganz im Sinne von Agambens Konstruktion des »Muselmanns«: Wladimir und Estragon werden zu Allegorien dafür, dass die Menschen allesamt als Juden zu gelten hätten, als ob »nicht mehr die ewige Trivialität des Todes sondern die Verfolgung selbst die Grundlage des menschlichen Daseins in der Gegenwart« wäre: »Seit sechzig Jahren wohnen wir der Ausweitung der ›Grauzone‹ (Primo Levi) bei: alle Menschen sind potentielle Opfer.« Und daher gilt offenbar: »als mögliche Opfer sind alle Menschen Juden« – und können sich darum mit Wladimir und Estragon identifizieren. Mit anderen Worten: Es gibt keine Antisemiten mehr, oder wenn, dann sind auch sie eben Juden. Dieser fliegende Wechsel von einer empirisch historischen Lektüre, die ohne die Juden zu nennen nicht auskommt, zu einer geschichtsphilosophischen Konstruktion, in der die Juden verschwinden sollen, leistet einer Schuldumkehr Vorschub, wie sie Anders und Adorno bei ihren Zeitgenossen beobachten konnten. Ihre eigene Deutung der Beckettschen Stücke ist dem genau entgegengesetzt. Statt die Lage der Juden als Allegorie des menschlichen Daseins in der Gegenwart zu verstehen, konzentrieren sie ihre Reflexion desto mehr auf das Kreatürliche.

Miriam Mettler: Conditio inhumana. Jean Améry und Jean-Paul Sartre

Das Postulat jüdischer Freiheit zur Wahl bei Sartre indes unterstellt eine Gleichstellung des Juden als Menschen selbst innerhalb einer Gesellschaft, die ihm diesen Status verwehrt. Die Grenze des Geistes wird von Sartre nicht eingestanden, der Geist im Zustand der Todesdrohung nicht an seine Voraussetzung – den Körper – zurückgebunden. Dies die Lüge der Sartre’schen Freiheitskonzeption, die zwar nicht den Geist absolut setzt, jedoch die Möglichkeit der absoluten Ohnmacht des Geistes angesichts der physischen Zurichtung nicht denken will. Zwar verleiht dieses Absehen von dem gesellschaftlichen Ausschluss der Juden – nicht nur aus der Gesellschaft, sondern aus der Menschheit – dem Text einen positiv-utopischen Gehalt: Wenn Sartre behauptet, die Metaphysik würde die Hauptsorge des Menschen sein, sobald die Menschen sich befreit haben, und kurz darauf dieses Privileg schon beim authentischen Juden vorzufinden behauptet. Jedoch spielt diese Annahme eines noch zu verwirklichenden Zustands wider Willen dem kritisierten Status quo in die Hände. Im Dienste des Prinzips Hoffnung wird eine utopische, weil vom Antisemitismus unabhängige Figur zur Realität erklärt und damit ein Zustand postuliert, in dem der Jude bereits von der Gefahr der conditio inhumana befreit ist.

Rolf Bossart: Wie eine Religion der anderen die Wahrheit wegnimmt. Zu Klaus Heinrichs Kritik des Johannesevangeliums und Religionskritik im Allgemeinen

Dies bedeutet, um zurück auf das Johannesevangelium zu kommen, dass die Kritik am Christentum, als diesem großen historischen Faszinosum fehlschlägt, wenn sie nicht Spuren des Auswegs und der Befreiung in seiner eigenen Tradition und Schrifttum zu finden im Stande ist. In Bezug auf die Spannung zwischen Gehorsam und Gerechtigkeit formuliert Heinrich in diesem Sinne: »Ich sage thesenartig kurz und knapp: dort wo die christliche Tradition an die prophetische Gerechtigkeitsforderung anknüpft, wird das stellvertretende Opfer Jesus das Unterpfand für die Abschaffung auch des stellvertretenden Opfers, dort wo sie die sich von der Abraham-Geschichte herleitende Paulinische Glaubens- und Gehorsamsforderung mitmacht, fügt sie mit dem Christus das stellvertretende Opfer in den ursprungsmythischen Opferzusammenhang ein.«

Gerhard Scheit: Wie eine Religion der anderen die Unwahrheit hinzufügt. Drei Thesen über den Begriff des Politischen in der Religionskritik mit einem Exkurs über Philosophie und Sklaverei

Nach neueren, gut begründeten Annahmen etwa der Saarbrücker Schule um Christoph Luxenberg und Karl-Heinz Ohlig (die sich auch auf Ignaz Goldziher, einen der Väter der Islamwissenschaft, beruft), der im angelsächsischen Raum bereits die Arbeiten von John Wansbrough und dessen Schüler vorangegangen waren, kann der Islam selbst keineswegs als eine plötzlich und ex nihil vollzogene Neugründung vor dem 8. Jahrhundert verstanden werden: Auf eine Rivalität mit einer neuen Religion oder auf einen Religionsstifter namens Mohammed, dessen Taten von der islamischen Überlieferung im 7. Jahrhundert angesiedelt werden, finde sich weder in christlichen und jüdischen, noch auch konkret in arabischen oder anderssprachigen Quellen dieses wie auch des folgenden Jahrhunderts ein Hinweis. Vielmehr ist von einem längeren, über Jahrhunderte sich hinziehenden Prozess auszugehen, der sich zunächst im Koran niedergeschlagen hat: Aus einem Lektionar, dem eine vermutlich von anti-trinitarisch gesinnten Christen angefertigte Übersetzungsversion der Bibel zugrunde lag und worin muhammad noch ein Gerundiv war und als Prädizierung von Jesus als dem »Gepriesenen« firmierte, wurde schließlich das exklusive, der Tora wie den Evangelien übergeordnete Buch eines eigenen Propheten arabischen Ursprungs namens Mohammed, der selber allerdings darin lediglich vier Mal beim Namen genannt wird, in den jedoch die Erinnerung an einen arabischen Stammesfürsten eingegangen sein mag, der wie seine umayyadischen Nachfolger mit den Juden noch Bündnisse geschlossen (worauf auch verschiedene Gebote wie das der Beschneidung hindeuten) und zugleich – soweit er dem Christentum nahestand – gegen die Auffassung von der Dreifaltigkeit Gottes sich gewandt haben dürfte.

Manfred Dahlmann: Wer gab der Rose ihren Namen? Vortrag vom 18. November 1986

Insofern es Eco gelungen ist, die Rätselhaftigkeit der Wirklichkeit zu beschreiben, ist es ihm vielleicht gelungen, einige Leser in ihren bisherigen Denkschablonen zu verunsichern und sie zu eigenständigem Denken anzuregen. Diese damit erzeugte Differenz zwischen Individualität und Welt ist, das gebe ich Eco zu, Voraussetzung für jedes kritische Denken. Wer, wie die Jorges, die Wahrheit gefressen hat, ist mit den Gegenständen identisch und kann zur Kritik nicht mehr kommen. Mit seiner Strategie der semiotischen Guerilla kann Eco aber nicht mehr erreichen, als diese Grundvoraussetzung für kritisches Denken zu reproduzieren – zur wirklichen Kritik gelangt man auf diesem Wege nicht.