sans phrase - Zeitschrift für Ideologiekritik

Die Frohe Nabelschau

Georges-Arthur Goldschmidt / Peter Stephan Jungk | Essay | Heft 19, Winter 2021/22

Peter Stephan Jungk: Wie geht’s Ihnen heute?

Georges-Arthur Goldschmidt: Mir sollte es normalerweise schlecht gehen, aber mir geht’s ausgezeichnet. Ich spiele immer den eingebildeten Kranken wie bei Molière. Ich hatte allerhand, aber es geht mir sehr gut. Ich hatte Covid und alles Mögliche, aber es geht mir sehr, sehr gut eigentlich.

PSJ: Wunderbar.

GAG: Wir stehen, meine Frau und ich, so gegen 10 oder 11 Uhr auf, da ist schon der Tag ziemlich angebrochen. Ich schreibe noch, aber immer weniger und vor allen Dingen: ich vertippe mich ständig, sodass das Schreiben richtig schwierig wird, und meine eigene Schrift kann ich nicht mehr lesen. Es ist unmöglich. Alle Leute sagen, es sieht schön aus, aber es ist unlesbar. Und mit dem Computer ist es noch schlimmer, weil ich mich ständig vertippe. Aber ich hab nichts mehr zu sagen, ich hab alles von mir selber ausgeforscht. Das einzige Thema meines Schreibens ist mein eigener Nabel. Ich bin kein Schriftsteller in diesem Sinne. Ich bin ein Selbstbetrachter, aber sonst, ich kann nicht wie Sie zum Beispiel über andere Menschen schreiben. Ich bin viel zu sehr in mich eingeschlossen, das kommt wahrscheinlich auch vom Exil. Die absolute Unsicherheit der Kindheit – nehme ich an.

PSJ: Gut, aber andererseits haben Sie zuletzt ein Buch publiziert, das mir persönlich sehr viel bedeutet, nämlich zum ersten Mal ein Buch, in dem Sie über Ihren Bruder schreiben. Wie kam es dazu? Das ist ja nicht nur über Sie, sondern sehr wohl auch über Ihren Bruder Erich.

GAG: Das kam, weil mein Verleger bei Wallstein, Thedel von Wallmoden, mich mal angerufen und gesagt hat: »Ja, aber es ist komisch, Sie reden nie über ihren Bruder!«. Und das ist mir gar nicht aufgefallen. Und plötzlich war das wie ein Elektroschock und ich hab verstanden, dass mein Bruder und ich in entgegengesetzten Welten lebten. Ich weiß nichts von ihm; er hat alles verschwiegen, er hatte ein fürchterliches Leben – durch mich. Ich hab ihm sein Königsreich als vierjähriger kleiner Junge zerstört und dann kam die Hitlerei – er hatte ein entsetzliches Leben von dem ich nichts weiß. Aber er wurde dann französischer Offizier und hat sich dummerweise am Putsch gegen de Gaulle beteiligt.

PSJ: In Algerien?

GAG: In Algerien. Er kam nicht ins Gefängnis, aber konnte dann nicht mehr aufsteigen und ist bis zum Lebensende nicht Oberstleutnant, sondern Major geblieben. Aber ganz am Ende seines Lebens bekam er die Ehrenlegion und das war für ihn das absolute Glück. Kann ich auch verstehen, er fühlte sich dermaßen in die französische Nation integriert, dass er das als ultime Etappe seines Lebens betrachtet hat.