Markus Bitterolf
Zu Jankélévitch, zu Israel
Bedrückend, wie aktuell der Text in seinen zentralen Aussagen bleibt. Jankélévitch bringt die damalige wie heutige Bedrohung der Juden in aller Kürze auf den Punkt: die Juden sind bedroht vom palästinensischen Terror in und außerhalb Israels, sie sind zudem der Gleichgültigkeit gegenüber dem Judenhass ausgesetzt, die selbst schon antisemitisch ist, weil sie dessen Taten grundsätzlich relativiert; auch thematisiert er die antizionistische Mehrheit innerhalb der Vereinten Nationen. Ein Jahr vor Jankélévitchs Statement formulierte ein Schriftsteller im Tessin es ebenso unmissverständlich: die völkerrechtliche Verurteilung des jüdischen Staats durch die UNO bestätigt »Politik, die kein anderes Ziel kennt als Israels Vernichtung …, eine Politik, die keine Mittel scheute und scheut, dieses Ziel zu erreichen.« Dabei haben gegenüber Israel, wie Jankélévitch es formuliert, »die Nationen der Welt, und an erster Stelle die Bezwinger Deutschlands, eine besondere Schuld aufgenommen: für all das, was sie nicht getan haben; für all das, was sie hätten tun sollen.« Dass die UNO aus dem Kriegsbündnis gegen Nazideutschland hervorgegangen ist und in ihrer Mehrheit Israel anerkannt hat, nimmt Jankélévitch zum Anlass, von ihren Mitgliedern Verantwortung für den Schutz des jüdischen Staats einzufordern. Gleichzeitig ist ihm bewusst, dass dies nur eine moralische Forderung gegenüber den Vereinten Nationen bleibt und dass das Völkerrecht nur ein Resultat der gewaltsamen internationalen Beziehungen ist, welches darüber hinaus gegen Israel gewendet wird.
Markus Bitterolf
»Mich aber täuscht der nicht mit seiner verworfenen Denkerei«
Oskar Maria Graf und Heideggers Ideologie
Oskar Maria Graf ist heute integriert in weiß-blauer Urigkeit, verstaut in der Literaturgeschichte und patriotisch stilisiert zum Repräsentanten des »anderen Bayern«. Längst abgeklungen ist die postnazistische Phase »in diesem dunklen Land der Schweinemast und Autoindustrie«, als er noch als »Roter«, Emigrant und nestbeschmutzender Literat zum Pulk unerwünschter Personen zählte, und »so einer« besser auf der anderen Seite des Atlantiks blieb. Wie wenig er tatsächlich willkommen war, wurde Graf Ende der 50er Jahre klar, als er das erste Mal seit 1933 nach West-Deutschland zurückkehrte. Die zwangsdemokratisierten Deutschen hatten keinen Bedarf an einem wie ihm, der allein durch seine Anwesenheit die Frage stellen würde, welchen Anteil jemand an Gleichgültigkeit, Ausgrenzung und mörderischem Wahn im Dritten Reich hatte. Über seine Eindrücke schrieb er wenig später: »Was mich aber bei meinen Deutschlandbesuchen grade in der wirtschaftswunderlichen Bundesrepublik am meisten anwiderte, war, ganz abgesehen von einem bereits latent gewordenen Antisemitismus, das wiedererwachte, engstirnig provinzielle deutsche Tüchtigkeitsprotzentum, gepaart mit der durchgehenden spießbürgerlichen-nihilistischen Prasserstimmung. Nach uns die Sintflut. Hauptsache ist, mir gehtʼs gut.« Grafs mitunter rigorose Ansichten, seine antifaschistische Haltung und geistige Unbequemlichkeit, was seine Herkunft anbelangte, seine Weigerung also sich dem »Mia san mia« des selbstbezüglichen Bayern anzuschließen, führten zu bleibenden Irritationen, mitunter Feindseligkeit: »Er war nach dem Kriege politisch in der Bundesrepublik so wenig erwünscht wie literarisch. Die Politik war jene, die wir kennen; und wäre da nicht die unleugbare Bodenständigkeit dieses Oberbayern gewesen – man hätte versucht, ihn unmöglich zu machen.«
Markus Bitterolf
Notizen zu einem Mord in Sachsen
Wiederkehr einer Tat und verständnisinnige Rechtsprechung
Obwohl also die sächsische Polizei den Mord nachträglich doch nicht anders einstufen konnte denn als das, was er offensichtlich war, sah die Schwurgerichtskammer am Landgericht davon bei der Verurteilung und dem Strafmaß ab. Die vorsitzende Richterin Simone Herberger verurteilte die drei Täter wegen Totschlag, Hiller erhielt als Haupttäter eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren. Hanisch und Hentschel wurden zu jeweils elf Jahren Haft verurteilt. Zwar sprach selbst die vorsitzende Richterin in ihrer Urteilsbegründung davon, in welch menschenverachtender Weise das Opfer getötet wurde und dass die Gruppe bei ihrer Tat hemmungslos vorgegangen sei. Die Heimtücke der Tat, die die Staatsanwaltschaft zumindest dem Hauptangeklagten vorwarf, spielte beim Strafmaß jedoch keine Rolle. Gleichfalls berücksichtigte das Gericht die manifeste Homophobie als niederen Beweggrund für den Mord überhaupt nicht, sodass juristisch Totschlag daraus wurde.
Dem ergangenen Urteil pflichtete gar die Staatsanwaltschaft bei, obwohl diese für den Rädelsführer Hiller eine Verurteilung wegen Mordes gefordert hatte: »Zwar sei rechtsextremes Gedankengut bei den Männern vorhanden, sagte Staatsanwalt Butzkies nach der Urteilsverkündung. Die Tat sei aber davon zu unterscheiden: Nicht jeder, der rechts ist, werde im Zuge einer Straftat von dieser Einstellung getrieben.«
Markus Bitterolf
Mit Martin Walser gegen den jüdischen Staat
Wie Moshe Zuckermann das Bündnis denkt
»Wie ist es geschehen«, so formulierte es Jean Améry 1969, »daß marxistisch-dialektisches Denken sich dazu hergibt, den Genozid von morgen vorzubereiten?« Damals setzte sich Améry mit den vehementen anti-israelischen Reaktionen der politischen Linken auf den Sechstagekrieg auseinander; was er an der Neuen Linken beschreibt und kritisiert, deckt sich selbst nach einem halben Jahrhundert bis in die Diktion hinein mit vielen Auslassungen Zuckermanns. In jener Tradition des »marxistisch-dialektischen Denkens« stehend, das sich dazu hergab, den Genozid vorzubereiten, hat der Kommunistische StudentInnenverband und die Kommunistische Jugend Österreichs im April 2018 den Historiker zu einer antizionistischen Vortragsreise unter dem Motto »Moshe Zuckermann on Tour: Linke Perspektiven in Israel« eingeladen. Die Veranstalter wissen, ihr Referent wird sie nicht enttäuschen, und bebildern die Termine in ihrer Internetpräsenz mit einem Kampfjet, der tief über die israelische Sperrmauer hinwegschießt. Ihr Kronzeuge soll »die in Israel vorherrschende politische und gesellschaftliche Ideologie beleuchten«. Weiter heißt es in der Ankündigung: »Die einen verbinden Israel mit Apartheidherrschaft, Besatzung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes, die anderen sehen in Israel einen Hort des Fortschritts im Nahen Osten. Welche Perspektiven gibt es in Israel für linke marxistische Kräfte, einem Land in fortwährendem Kriegszustand mit anhaltender Dominanz rechter Parteien an der Regierung? Welchen Hindernissen sehen sich sozialistische Bestrebungen in diesem Land ausgesetzt?« So lässt sich in universalistischer Manier mit Zuckermanns Beihilfe »das zum Täterland verkommene Israel« delegitimieren.
Markus Bitterolf
»Vor ein paar Jahren sind wir zum schönsten Dorf Deutschlands gewählt worden.«
Über den Mord an Marinus Schöberl vor 15 Jahren
Der zweite Schub von Misshandlungen beginnt. Marco Schönfeld wirft ihm nun etwas Spezifisches vor: mit seinen blondierten Haaren wolle Marinus ›vertuschen‹, dass er Jude sei. Die weiteren Fausthiebe sollen ein Geständnis erzwingen. Monika Spiering und ihr Lebensgefährte sind die ganze Zeit anwesend. Die Quälereien auf ihrer Veranda unterbinden sie nicht und Spiering meint schließlich lapidar zum Geprügelten: »Nu sag schon, dass du Jude bist, dann hören die auf.« Irgendwann sind der Schmerz und die Verzweiflung zu groß, und Marinus sagt: »Ja, ich bin Jude«. »Dann ging es richtig los«, wie Marcel Schönfeld mit all der nüchternen Rohheit in seiner zweiten Vernehmung zu Protokoll gab.
Markus Bitterolf
Zwischen Schmitt und Keynes
Oswald Mosley und die Wandlungen des autoritären Charakters in Großbritannien
Nur eine einheitliche europäische Regierung sei in der Lage, in den sich steigernden Macht- und Wirtschaftskämpfen auf der Welt der Rasse der Europäer ihre Lebensgrundlagen zu sichern: sie bilde keinen Bundesstaat oder Staatenbund mehr, sondern Europa selbst werde ein Staat. Mit dieser fixen Idee ist Oswald Mosely bis heute in Erinnerung geblieben: »Europe a Nation is the only solution«. Offenbar wollte er die Unterwerfung der verschiedenen faschistischen Bewegungen und Staaten Europas durch den zum Vernichtungskrieg treibenden Unstaat des nationalsozialistischen Deutschlands einfach nicht zur Kenntnis nehmen und stellte sich wie in einem Tagtraum vor, dass nunmehr aus jenen Bewegungen mitsamt dem mittlerweile besiegten Deutschland sogar ein gemeinsamer Staat hervorgehen könnte, der das Versäumte, die Verbrüderung aller europäischen Faschisten sozusagen auf Augenhöhe, nachhole und daraus einen einzigen Staat mit verschiedenen Völkern forme.
Markus Bitterolf
Ein guter Europäer: Heidegger 1936 in Rom
Der Literaturwissenschaftler Silvio Vietta bringt es fertig, die antisemitischen Passagen der Schwarzen Hefte als legitime »Judenkritik« zu deuten. Heideggers seynsgeschichtlicher Antisemitismus wird – unter Abspaltung der Realgeschichte – zur Globalisierungskritik frisiert: »Etwas rast um den Erdball …« Unfreiwillig trifft diese Verteidigung das Projektive der Antiglobalisierungsrhetorik von links bis rechts: transnationale Konzerne, Heuschrecken, Bankster, die amerikanisch-jüdische Ostküste, oder was sonst noch Sahra Wagenknecht, die IG Metall, Augstein Junior, Jürgen Elsässer und die NPD Görlitz für antisemitisch konnotierte Umschreibungen gesellschaftlicher Herrschaft finden werden. Welche Konsequenzen auf solchem Wahn gründende Politik bereits im 20. Jahrhundert zeitigte, ficht auch Vietta naturgemäß nicht an; er affirmiert Heideggers Pseudokritik des Kapitals als »Zivilisationskritik« mit antiimperialistischer Ausrichtung.
Markus Bitterolf
Halb tot gelacht
Samuel Beckett und das Publikum
Mit dem Niedergang alles Individuellen in Massenwahn und integralem Etatismus wurde das »Selbstbewußtsein des Menschen mit seiner Funktion im herrschenden System identisch«, so Max Horkheimers Diagnose in seiner 1946 publizierten Eclipse of Reason. Nicht erst seit jenem deprimierenden Befund scheint die Menschheit ein Schicksal zu teilen: sie »vegetiert kriechend fort«. Oder, um es mit dem nicht minder bitteren, der Figur Hamm aus Becketts Endspiel in den Mund gelegten Satz auszudrücken: »Es geht voran.« Während dieser Fortschritt gesellschaftlichen Unglücks einen Tag an den anderen reiht, tut das verbliebene Bildungsbürgertum so, als stünde es im Ringen zwischen Kultur und Barbarei noch immer unentschieden. Auschwitz hat für sie nichts grundlegend verändert. Unangefochten durch die nationalsozialisierte Wirklichkeit geht es also von Spielzeit zu Spielzeit.