Der Antisemitismus ändert manchmal seinen Namen, aber nie seine Haltung. Immer erzählt er uns die gleiche finstere Geschichte von Machenschaften und Verschwörung. Ob Zionist oder Jude, immer ist der negative Held dieser Geschichte mit den gleichen Kräften ausgestattet: mit denen des Kraken, dieses vielarmigen Monsters, das in seinen Tentakeln zahllose Opfer vernichtet, oder mit denen der Spinne, die geduldig ihr feines Gewebe spinnt und fast die ganze Menschheit in den Maschen ihres Netzes fängt oder fangen möchte. Porträt des Juden als Kopffüßler oder Insekt. Aber warum gerade dieses Bestiarium? Warum nimmt die Allergie gegen die Juden prinzipiell die Form einer Paranoia an? Vermutlich weil die jüdische Fremdheit keine Andersartigkeit wie die anderen ist. Denn »diese Leute« entziehen sich jeder Einordnung, der des Blicks ebenso wie der des Begriffs und der des Staats. Und wie dem Blick entzieht sich diese immaterielle Differenz auch der Definition. Sind die Juden ein Volk? Eine Religion? Eine Nation? Alle diese Kategorien sind irgendwie anwendbar, keine befriedigt wirklich. Und drittens kann man den Juden heute überall begegnen, seit der Öffnung der Ghettos entziehen sie sich als Gruppe jeder Lokalisierung. Zerstreut über die Welt, unsichtbar und unbestimmt sind sie, und genau dieses dreifache Scheitern des Strebens nach Klarheit ist es, was den Juden so leicht die Anklage der Verschwörung an den Hals zieht.
Das Offensichtliche ist widerlegt: nicht aus Hass auf die Juden wird Hitler von seinem Versuch des Völkermords freigesprochen, sondern aus abstrakter Liebe zur Arbeiterklasse. Das Proletariat ist nur deshalb völlig unbesiegbar, weil es absolut versklavt ist, und es verkörpert die Idee der Menschheit nur deshalb, weil »die Menschheit allein, unendlich in ihrer Not und in ihrem Recht«, in ihm fortbesteht. An den Arbeitern vollendet sich eine Ungerechtigkeit der Gattung: keine Klasse, keine Nation oder Ethnie darf ihnen diesen Ehrentitel streitig machen. Die die Gaskammern leugnen, klagen die Juden nicht an, jüdisch zu sein (das heißt anders als die anderen, monotheistisch, aufklärungsfeindlich oder geizig), sondern den Gang der Geschichte durcheinanderzubringen und gegen die Dialektik zu verstoßen, indem sie für sich selbst ein Vorurteil in Anspruch nehmen, das größer sei als das Unrecht, das die Arbeiterklasse tagtäglich erleidet. Die moderne Geschichte will nur ein Verbrechen, und zwar das, welches jeden Tag gegen die Arbeitskraft verübt wird. Aufgabe der Revolutionäre ist es, unaufhörlich an die Schärfe dieses Skandals zu erinnern und zu verhindern, dass die Gesellschaft ihn zugunsten von Nebenpauschalen vergisst. Die den Antifaschismus heute für Mythologie und die Geschichte des Genozids für Augenwischerei halten, sind nicht judenfeindlicher als die Sozialisten zur Zeit der Dreyfus-Affäre. Was sie nicht dulden, ist, dass ein Statist oder Komparse sich anmaßt, die etablierte Ordnung zu stören und die Hauptrolle zu spielen. Dieses streng materialistische Denken erzeugt ein monströses Amalgam, wie es sich die phantasievollste Judenfeindschaft nicht hätte träumen lassen. Der Jude und der Nazi sind zwei Varianten ein und derselben Funktion, wandelbare Gestalten eines Ersatzopfers, das die Gewalt der Arbeiter auf sich zieht und in eine Falle lockt. So gipfelt der Wille, den Thron des Proletariats zu verteidigen, in der Leugnung des Genozids und der einfachen Gleichsetzung von Folterer und Gefoltertem.