Albert Memmi
Was sind die Unterdrückten ohne die Unterdrücker?
Tatsächlich haben die meisten neu befreiten oder kurz vor der Befreiung stehenden Völker ein bemerkenswertes Selbstbild; bemerkenswert und doch leicht wiederzuerkennen, da es die Antithese des Bildes ist, das die Kolonisatoren von ihnen hatten. Bislang war das populäre Bild der kolonialen Eingeborenen düster, kleinlich und negativ bis hin zur Mystifizierung. Doch plötzlich sehen wir uns mit einem Wesen konfrontiert, das eine märchenhafte Vergangenheit und eine Geschichte voller Helden hat, deren würdiger Nachfahre es ist. Der Kolonisierte ersetzt von nun an die negativen Mythen des Kolonisators durch positive. Je mehr er gedemütigt und erniedrigt wurde, desto glorreicher sind die neuen Mythen.
Diese nostalgischen Gegenmythen jedoch, die sich auf die Vergangenheit stützen, sind wirksam bei der Gestaltung der Zukunft eines heranwachsenden Volks. Im besten Fall können sie bei der kollektiven Psychotherapie helfen, die jede nationale Befreiung enthält. Aber sie gefährden die kollektive Anstrengung, indem sie sie lähmen oder von dem einzigen Weg zur Rettung ablenken – dem der Wiedergeburt. Ganz zu schweigen von der unerwarteten Tatsache, dass der Gegenmythos, als Reaktion auf den Beherrscher, den Beherrschten immer noch im Sinn seiner früheren Knechtschaft definiert.
Albert Memmi
Bin ich ein Verräter?
Die Selbstkritik des Autors von Portrait d’un Juif
Aber ich beeile mich hinzuzufügen, dass die Juden in ihrem Zustand der Unterdrückung unter muslimischer Herrschaft und noch mehr in der kolonialen Situation den einzigen ihnen offenen Ausweg nahmen. Die arabische Kultur und Sprache, die orientalischen Sitten und Gebräuche, die arabisch-islamische Zivilisation – das war Vergangenheit, eine dunkle Vergangenheit voller Angst, voll wirtschaftlicher und kultureller Armut. Um in das Licht der aufgeklärten Kultur zu treten, in den Genuss von Macht und Annehmlichkeiten der Zivilisation zu kommen, Teil der modernen Geschichte zu werden und die zeitlose Stagnation hinter sich zu lassen, in der die ehemaligen türkischen Besitzungen Nordafrikas versunken waren, mussten die Juden durch Europa gehen, Frankreich adoptieren und von ihm adoptiert werden. An diesem Punkt wurde deutlich, dass die muslimischen Eliten ähnlich empfanden. Auch sie begannen sich zu europäisieren, Französisch zu sprechen, Jacketts und lange Hosen zu tragen und ihre Kinder in die Schulen der Kolonisatoren zu schicken. Doch diese Annäherung blieb begrenzt und wurde durch das Ressentiment gegen den Eroberer erschwert. Die Juden aber stürzten sich kopfüber voran; sie waren nicht von den Franzosen besiegt worden und sie hatten nichts zu verlieren.
So entstand jedenfalls eine jüdische Bourgeoisie, deren Kultur, Geschmack und Bestrebungen fast ausschließlich französisch war. Ihre Kinder studierten in Europa und kehrten als Ärzte, Apotheker und Anwälte zurück. Sie bildeten eine neue Klasse von Fachleuten – dynamisch, aktiv und wohlhabend –, in Ländern, die solche Fachkräfte dringend brauchten. Das Ghetto blieb verarmt, schöpfte aber verständlicherweise Hoffnung aus dem Erfolg seiner Bourgeoisie. Die gelegentliche Karriere eines Sohnes aus dem Ghetto, der es zum Arzt, Anwalt oder reichen Kaufmann gebracht hatte; der in einer europäischen Stadt lebte; er bewies, dass der Weg zum Erfolg für alle offen war.
Albert Memmi
Das Reich der Armen
Die Müdigkeit und der Ekel bewirken, daß Gesichter und Nöte zu verschwimmen beginnen. Eine Tür, die aufgeht und Dunkelheit herausströmen läßt, zusammen mit einer Horde Kinder jeden Alters, die ihre Augen weit aufsperren. Da Vater und Mutter blind sind, leben die Kinder seit ihrer Geburt im Dunkeln. Ein Greis, der in einem von Ungeziefer verseuchten Verschlag unbeweglich auf einem nackten eisernen Bettgestell liegt und unsere Fragen unbeantwortet läßt. Diese Zimmer, wo aufgehängte Wäsche zu trocknen vorgibt, wo die Feuchte der Luft, der Modergeruch uns den Atem benimmt. Die Kinder haben dicke Köpfe und hervorstehende, glänzende Augen.
Albert Memmi
Man sagt die Sonne, man sagt das Meer
Man betrachte doch ein Kaktusfeld, wenn der Sommer zu Ende geht: Versengt und grau erfährt es die Wahrheit des göttlichen Fluchs, wird wieder zu Staub, vermengt sich damit und wird sich in kurzem verflüchtigen, ohne stärkere Spuren zu hinterlassen als ein bißchen Staub auf der schrundigen Erde. Diese Verurteilung zu Unbeweglichkeit, zum Ersticken, zum restlosen Ausgesogenwerden, so daß der Tod unvermeidlich wird, gehört ebenfalls zu den großen Lehren der Sonne: Sie gibt dem Leben Rhythmus und auch dem Tod, dem nichts entgeht. Selbst ihr Lieblingskind, die üppige, geschwellte, vom kostbarsten Gut, dem Wasser, gesättigte Tomate, ist vergänglich, platzt bald auf, so daß ihre Eingeweide bloßliegen, verfault, verdorrt, wird für alle Zeiten gegerbt wie eine Mumie.