Deborah Benjamin Kaufmann / Gerhard Scheit

Deborah Benjamin Kaufmann / Gerhard Scheit

»Ich fürchte, das kann ich in Europa nicht erklären«

Ein Briefwechsel zwischen Tel Aviv und Wien im Februar 2025

Heft 25, Frühjahr 2025 Parataxis

Am letzten Donnerstag habe ich nochmal den Platz der Geiseln besucht, wahrscheinlich zum letzten Mal während dieses Aufenthalts. Es war der Tag, an dem die Leichen von Kfir und Ariel Bibas zurück nach Israel gebracht wurden. Die beiden Geschwister, zum Zeitpunkt ihrer Ermordung 10 Monate und vier Jahre alt, haben die Gesellschaft hier mehr noch als jedes andere Schicksal bewegt. Bis zuletzt hoffte man, sie seien am Leben. An diesem Donnerstag sind viele Menschen hier nicht zur Arbeit gegangen. Ich fürchte, das kann ich in Europa nicht erklären. Warum, wird man mich fragen, gehen Menschen nicht zur Arbeit, weil ihnen unbekannte Kinder ermordet wurden? Das ist, was ich beschreibe, wenn ich davon schreibe, dass die gemeinsame Betroffenheit und der gesellschaftliche Zusammenhalt hier ganz anders gelagert sind als in Europa. Mir ist auch klar, dass das kaum verstanden werden kann, ohne die Erfahrungen des kollektiven Gedächtnisses dieses Volkes und dieses Landes. Etwas anderes aber ist eigentlich ganz einfach zu verstehen: Was es bedeutet, bei diesen Freipressungs-Spektakeln, Bilder von der Vorführung der Särge, versehen mit dem Schriftzug »Tag der Festnahme: 7.10.2023«, bei heiterer Musik zu produzieren. Was es bedeutet, dass die Kinder, wie die forensische Analyse ergeben hat, im November 2023 mit bloßen Händen ermordet wurden. Was es bedeutet, dass ihre Angehörigen die Entscheidung treffen mussten, diese Daten freizugeben, die an mehrere unabhängige Labors im Ausland verschickt wurden, um die Obduktionsergebnisse von Dritten verifizieren zu lassen, weil sie wussten, dass die Ergebnisse eine Lüge genannt werden würden.

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