Berlineske 1937

Viele Krähen an den Ufern der Spree, die derselbe Fluss geblieben ist. Bäume zuhauf und andere Betonwohnhäuser rings um den Tiergarten, als Ganzes eher eintönige Rekonstruktion; nur die von den Bomben verschonten Häuser sind von Belang. Eine trostlose Ampelkreuzung, davor erinnert eine Gedenktafel an das Verschwinden der Synagoge. Spaziergänger gehen gleichgültig vorüber, mit ihren Hunden, die an die Stele pissen. Eine andere verwitterte Tafel zeigt an, dass die Dichterin Nelly Sachs bis zu ihrer Flucht nach Schweden 1940 auf der Flensburger Straße lebte – für mich, meine undeutlichen Erinnerungen und meine Rätsel das Zentrum der Welt.

Auch Nelly Sachs kämpfte gegen den Wahnsinn. Ihr Schicksal ist für mich verknüpft mit der jüdischen Berliner Schauspielerin, die mein Vater 1933 für meine Mutter verlassen hatte. Mein Vater schleppte bis zu seinem Tod 1991 ein schweres Schuldgefühl mit sich herum, sich nicht darum gekümmert zu haben, was aus dieser jungen Frau geworden war, als er 1937 wieder nach Berlin zurückkehrte.

Jetzt trage ich diese Schauspielerin in mir, ohne jede Genauigkeit, ohne Identität, ohne Ort oder irgendein Bild. Ich lasse sie in der Flensburger Straße wohnen, inmitten der Gespenster meiner menschlichen Komödie.

Ich bin nicht körperlich in Berlin geboren, aber ich bin dort geboren, mit den Mysterien dieser verschwommenen Erinnerungen. Welche geistige Abmachung hatten nun meine Eltern miteinander getroffen im Hinblick auf diesen verlängerten Aufenthalt in der unerträglichen Hauptstadt der Nazis? Eine Abmachung, die für meine Mutter mit dem Risiko einherging, verrückt zu werden; was denn auch geschah.

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