Die Farbe der Robe

Souveränität ist im Grundgesetz des neuen deutschen Leviathans also gut versteckt. Sie lugt hinter der »Würde des Menschen« in Art. 1, also des allgemeinen Menschen überhaupt, einer Abstraktion, nur ab und zu hervor wie Rumpelstilzchen, das bis zum bitteren Ende drauf hofft, dass niemand seinen Namen kennt. Weder darf man also bei der Würde »des Menschen« an die bedürftigen und quälbaren einzelnen Menschen denken, noch beim Begriff der Würde an Immanuel Kant. Denn was der Parlamentarische Rat unter Würde verstand und auch die Methode, mittels derer das BVerfG, etwa im Urteil vom 21. Juni 1977 zu den verfassungsrechtlichen Grenzen lebenslanger Freiheitsstrafe, den Begriff mit allerlei ethischen Kalkulationen stopfte, hat mit dem kategorischen Imperativ Kants und seiner Ableitung der Würde aus der Fähigkeit der Menschen zur Freiheit und zur Autonomie wenig zu tun. Darum wird man sich nicht wundern, dass der vom Verfassungskonvent ursprünglich vorgesehene Wortlaut des Art. 1 des Grundgesetzes vom Parlamentarischen Rat abgelehnt wurde. Der Vorschlag lautete: »Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.« … Anders als etwa die französische Verfassung der V. Republik vom 4. Oktober 1958, die der Souveränität gleich zu Beginn einen eigenen Titel mit drei Artikeln widmet, kommt der Begriff der Souveränität im Grundgesetz kein einziges Mal vor. Deliberativ sollte die Bonner Republik sein und ihr Grundgesetz daher von Anfang an eine Einladung an alle, jeden Gegensatz der Interessen, jede schmerzliche Erinnerung an eine Zeit der Klassenkämpfe und den unaufhörlichen Kampf um Meinungsführerschaft nach Möglichkeit in ein bloß rechtliches Problem zu transformieren und sodann als rechtlichen Meinungsstreit oder Rechtsstreit auszutragen.

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