Auf die Frage, warum wir erst heute, ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, das Stück zu verstehen beginnen, antwortet François Rastier im Grunde: Weil wir selbst zu Juden geworden sind. Zunächst sucht er sich zwar noch von der Philosophie Giorgio Agambens zu distanzieren, wenn er schreibt: »Die ethnischen Säuberungen auf dem Balkan und der Völkermord in Ruanda haben aus der nationalsozialistischen Vernichtung so etwas wie ein Paradigma der zeitgenössischen Kultur gemacht. Und über diese Kultur streiten sich die Partisanen des Pathos und der Ästhetisierung wie Steiner, Agamben oder Littel mit den Partisanen der historischen Luzidität wie Hilberg, Vidal-Naquet oder Thanassekos.« Doch er selbst ist es, der schließlich die empirische historische Lektüre umschlagen lässt in eine schlecht allegorische ganz im Sinne von Agambens Konstruktion des »Muselmanns«: Wladimir und Estragon werden zu Allegorien dafür, dass die Menschen allesamt als Juden zu gelten hätten, als ob »nicht mehr die ewige Trivialität des Todes sondern die Verfolgung selbst die Grundlage des menschlichen Daseins in der Gegenwart« wäre: »Seit sechzig Jahren wohnen wir der Ausweitung der ›Grauzone‹ (Primo Levi) bei: alle Menschen sind potentielle Opfer.« Und daher gilt offenbar: »als mögliche Opfer sind alle Menschen Juden« – und können sich darum mit Wladimir und Estragon identifizieren. Mit anderen Worten: Es gibt keine Antisemiten mehr, oder wenn, dann sind auch sie eben Juden. Dieser fliegende Wechsel von einer empirisch historischen Lektüre, die ohne die Juden zu nennen nicht auskommt, zu einer geschichtsphilosophischen Konstruktion, in der die Juden verschwinden sollen, leistet einer Schuldumkehr Vorschub, wie sie Anders und Adorno bei ihren Zeitgenossen beobachten konnten. Ihre eigene Deutung der Beckettschen Stücke ist dem genau entgegengesetzt. Statt die Lage der Juden als Allegorie des menschlichen Daseins in der Gegenwart zu verstehen, konzentrieren sie ihre Reflexion desto mehr auf das Kreatürliche.