War Victor Adler damals sichtbar bemüht, die Choleraepidemie von 1892 und den Versuch ihrer Eindämmung innerhalb des Verhältnisses von Staat und Kapital zu deuten, findet man bei den Kritikern der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie heute davon in der Regel keine Spur. Stattdessen wird unter Verweis auf Michel Foucault, Carl Schmitt und Giorgio Agamben über den Ausnahmezustand geschrieben, als habe es nie eine Kritik der politischen Ökonomie gegeben. So kommt es dann auch, dass die sozialen Auswirkungen der staatlichen Pandemiebekämpfung in solchen Texten nicht selten nur Randnotizen bilden, obwohl gerade in dieser Hinsicht vieles skandalös war und auch weiterhin ist. Die Aufarbeitung all dessen scheint für die Staatskritiker vom Schlage Agambens kaum von Interesse zu sein. Das liegt indes nicht allein daran, dass dergleichen detailreich und daher mühsam ist, was im Übrigen auch für die Frage gilt, wie umfassend die oft behauptete Präzedenzlosigkeit der Einschränkung oder gar Aufhebung der bürgerlichen Grundrechte im Einzelnen und je nach Land tatsächlich war. Das Desinteresse für die mit der Seuche »in voller Deutlichkeit« hervortretenden sozialen Zustände der Gesellschaft, »die sie längst kennt, aber vor denen sie gewaltsam die Augen zu schliessen gewohnt ist« (Victor Adler), ist durchaus systematisch und konsequent.