sans phrase - Zeitschrift für Ideologiekritik

Heft 18, Sommer 2021

Joachim Bruhn: Die politische Ökonomie des Antisemitismus. Über die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion

Wie kann es sein, dass dieses so oft als Fälschung enttarnte Machwerk nicht nur bis heute als Grundbuch des Antisemitismus, wie auch, natürlicherweise, der Konterrevolution gegen Israel wirkt, sondern dass es im Nazifaschismus zum Grundgesetz erhoben, das heißt der Judenhass zur Staatsräson, zum Inhalt und zum Wesen der politischen Souveränität wurde? Die Frage ist also die nach dem überaus intrikaten Verhältnis von Lüge und Ideologie; das heißt die Frage nach dem Grund dessen, dass die so harmlos freundlichen Aufklärungsversuche der liberalen Antisemitismusbeforschung systematisch nicht nur ins Leere gehen müssen, dass sie vielmehr den Antisemitismus, den sie als Lüge entlarven wollen, doch als Meinung hofieren und ihm somit als Ideologie stets neues Futter geben. Wolfgang Benz – ich erspare mir weitere Bemerkungen über diese traurige Gestalt – ist ja ein Paradeexemplar eben dieser liberalen Antisemitismusbeforschung. Und wenn er nun eine Broschüre veröffentlicht, Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung, dann heißt es eben hier, dass die Protokolle das Orientierungsbedürfnis in einer zunehmend unübersichtlicheren und immer stets komplexer werdenden Gesellschaft befriedigen, dass hier also eine »wahnhafte Konstruktion« gegeben wird, ein »Mythos«, ein »Konstrukt« und dann kommt noch das Wort, es sei ein »Diskurs«. – Das Wort »Diskurs« muss man ja eher postmodern französisch vor sich hin flöten, damit es auch richtig süffig wird. Also es werden Gründe genannt, dass hier eine Art Reduktion gesellschaftlicher Komplexität stattfinde, es wird nicht – mit guter Absicht nicht – auf dieses Rätsel der im Kapital inkarnierten gesellschaftlichen Synthesis rekurriert. Und so ist diese Literatur im Großen und Ganzen einfach nur Müll und das Einzige, was von dieser Literatur kein Müll ist, ist das Buch von Alexander Stein Adolf Hitler, Schüler der »Weisen von Zion«.

Gerhard Scheit: Menschen mit Nazihintergrund und ihr ehemaliger Führer im Weißen Haus. Zwei Glossen

Die Gesellschaft wird in Teile zerlegt und diese sind mit den Farbstiften der Intersektionalität identitätspolitisch zu markieren, mittlerweile farblich nuancierter durch die »multidirektionale Erinnerung« (Rothberg). Die roten Sektionschefs können sich dann bei Vergabe von Subventionen und Projektgeldern danach richten. Soweit verläuft alles in sozialdemokratischen Bahnen – und führt weit weg von radikaler Kritik, der es im gleichen Maß um die Einheit gehen muss wie um die Teile selber. Für solche Teile, die sich zur deutschen »Mehrheitsgesellschaft« addieren lassen, sobald umgekehrt die jüdische Bevölkerung und andere Opfergruppen zu den Minderheiten gezählt werden, mag an sich die Bezeichnung ›Menschen mit Nazihintergrund‹ durchaus treffend sein (ungefähr so wie Götz Alys Volksstaat-Buch), nährt allerdings auf der anderen Seite auch einen gewissen nationalen Sündenstolz. Vor allem aber wird dabei nahegelegt, dass mit der Arisierung – in Analogie zur Kolonialisierung – das ganze Wesen des Nationalsozialismus auf den Begriff gebracht wäre. Genau so unterläuft aber die postcolonial theory – die auch für die Juden eine eigene Sektion vorsehen mag, allerdings nur als Minderheit in der Diaspora – nun sogar am Gegenstand des Nazierbes, was antideutsche Kritik einmal als Postnazismus bestimmt hat. Denn wird – wie in dieser Kritik – die Arisierung als eine von mehreren Phasen im Prozess der Vernichtung der Juden begriffen, der keinerlei kolonisierenden Zweck weil überhaupt keinen Zweck hatte, dann heißt das für die Einheit, die aus diesem Vernichtungsprozess hervorging, etwas ganz Bestimmtes, das postcolonial theory zu leugnen geradezu erfunden worden ist: Durchs Kapitalverhältnis konstituiert besitzt die Einheit nicht anders als vor der Shoah ein entsprechendes Potential, die Vernichtung erneut in Gang zu setzen – nur dass dieses Potential unter den neuen, vom Sieg der Alliierten über Nazideutschland geschaffenen Bedingungen nicht unbedingt dessen Nachfolgestaaten vorbehalten bleibt. Sein erweitertes ›Einzugsgebiet‹ nimmt jetzt vielmehr im Verhältnis zum jüdischen Staat Gestalt an, am konkretesten und gefährlichsten im derzeitigen Regime des Iran.

Jonathan S. Tobin: Israel braucht Amerika, doch die Ära des Klientelstaats ist vorbei

Biden ist gewillt, Obamas desaströses Iran-Atomabkommen wiederzubeleben. Und trotz angeblicher Konsultationen mit Jerusalem über Versuche, Verhandlungen mit Teheran zu beginnen, zeigt sich die Administration entschlossen, legitime Bedenken ihrer engsten Freunde und der einzigen Demokratie in der Region zu ignorieren. Bidens Team reagiert auf eine starrsinnige Weise gleichgültig gegenüber Ratschlägen, die auf den Aberwitz hinweisen, zu einem Pakt zurückzukehren, der am Ende des Jahrzehnts ausläuft und dem islamistischen Regime die Freiheit lässt, sein Streben nach Atomwaffen wieder aufzunehmen, während er nichts enthält, was das illegale Raketenprogramm und die Unterstützung des Terrorismus verhinderte.

Christian Thalmaier: Das Patent als Mörder. Zur Kritik des Juristensozialismus in Zeiten von Corona

Weil das so ist, wird und kann der Staat das im Patentrecht normierte Recht am geistigen Eigentum nur zum Schutz der nationalen Gesundheit und Sicherheit und nur in der Weise lockern, dass dabei die »Wertgarantie des Eigentums« am gewerblichen Schutzrecht nicht verletzt wird. Aufgrund der Beschränkung seiner Souveränität auf das Staatsgebiet und wegen der Konkurrenz der Staaten untereinander geht ihn außerhalb der Staatsgrenzen noch nicht einmal die Volksgesundheit etwas an. Warum das gar nicht anders sein kann, zeigt die von Marx begründete Kritik der politischen Ökonomie, die als Kritik der politischen Ökonomie die Kritik des Staates als Form einschließt. Staatskritik in diesem Verständnis unterscheidet sich als Formkritik von der am jeweiligen politischen Inhalt orientierten bloßen Beanstandung des zwischen Liberalismus und Keynesianismus oszillierenden und in sich antinomischen Staatshandelns auch dann ums Ganze, wenn der Keynesianismus »bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite« (IfSG) wieder einmal Konjunktur hat.

Gerhard Scheit: Sterbehilfe für den Souverän. Historische Randglossen zu einer abendfüllenden Travestie von Ferdinand von Schirach

Der verschobene Plotpoint der Schirachschen Dramaturgie besteht aber darin, dass am Ende der fiktiven Diskussionen im Publikum real darüber abgestimmt wird, wer recht hätte beziehungsweise der Sieger wäre  – in diesem Fall also darüber, ob der ärztlich assistierte Suizid, wie ihn sich Herr Gärtner wünscht, ermöglicht werden sollte. … Dieser ›Gimmick‹, mit dem Schirach das Publikum anlockt, tut offenbar im Kulturbetrieb seine Wirkung, wie auch der Rezensent der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erstaunt feststellt: Durch das Stück Terror wurde der Autor in Deutschland zum meistgespielten Dramatiker, und Gott »brachte es im Corona-Jahr 2020 in nicht einmal zwei Monaten auf 99 Aufführungen an acht Theatern«.  Die Gründe dafür sind in einer schlichten, gegen die Moderne gerichteten Dramaturgie zu suchen, die sich gerade darin als raffiniert erweist, dass sie auch den ideologischen Bedürfnissen des heutigen Theaterpublikums in Deutschland sehr entgegenkommt. Während traditionell der Schluss einer Tragödie als deren neuralgische Stelle erscheint, der Punkt, an dem der Autor nicht selten Farbe zu bekennen sich herausgefordert sieht, um die Frage zu beantworten, wie er es denn nun mit dem Staat halte, nimmt sich Schirach genau hier, am Ende seiner Stücke, als Souverän des Textes scheinbar zurück und verkündet in Brecht’scher Manier: Verehrtes Publikum, los, such’ dir selbst den Schluss – den er ihm aber längst eingeflüstert hat.  Die Form ist auch dabei der niedergeschlagene Inhalt, denn der entpuppt sich als Verdrängung des Souveräns. Nur ist es eben keine ästhetische, wie sie Hegels Dialektik beschwört, sondern eine kulturindustrielle, der allein die Einsichten aus der Dialektik der Aufklärung gerecht werden können.

Dirk Braunstein / Christoph Hesse: Schiffbruch beim Spagat. Hors d’œuvre

Heteronormativität

»Wer gewohnt ist, mit den Ohren zu denken, der muß am Klang des Wortes Kulturkritik sich ärgern nicht darum bloß, weil es, wie das Automobil, aus Latein und Griechisch zusammengestückt ist.« Doch ist die Kulturkritik, an deren Klang Adorno sich ärgerte, noch lange nicht das Abwegigste, was je aus Latein und Griechisch zusammengestückt wurde. Hören Sie mal her: »Das diskursiv konstruierte Geschlecht wird an die Heteronormativität angekoppelt«, und das macht gewiß noch weniger Freude als irgend Sinn. Doch seien Sie versichert: »In den queeren interdisziplinären Ansätzen wurde die diskurstheoretische Richtung anschließend an die Heteronormativitätskritik fruchtbar weitergeführt.« Fruchtbarkeit ist ja gottlob nicht an den sexuellen Verkehr von Frau und Mann angekoppelt, sondern kann in →Ansätzen auch vegetativ, jedenfalls →diskursiv →konstruiert und immer weitergeführt werden.

Moritz Schwab: Zum Problem des destruktiven Narzissmus

Die als Destruktionstrieb gegen das eigene Ich gerichtete Selbsterhaltung ist eine solche Gefahr, dass eben jene Wünsche und Teile des Ichs, die sich ihrem Hass aussetzen, abgespalten, projiziert und im Gegner bekämpft und vernichtet werden müssen. Da aber der Wunsch immer im Individuum selbst liegt, auch dort wo er projiziert ist, ist seine eigene Vernichtung schon mit einkalkuliert. Im Selbstmordattentäter findet der Islam, der die totale Herrschaft schon im Namen trägt, seinen extremsten Ausdruck, sein Zweck ist die restlose Liquidation von Subjekt und Objekt. Die Islamische Republik Iran, die auf staatlicher Ebene demselben Prinzip folgt und Israel mit der atomaren Vernichtung droht, will gleichermaßen deren endgültige Auslöschung – und wenn sie selbst daran zugrunde geht. Es bleibt also offen, ob Freud nicht doch recht behält mit seiner pessimistischen Bestimmung, dass alles Leben nur den Tod zum Ziel habe.

Rolf Bossart: Ödipus als Erzieher. Bemerkungen zu einer psychoanalytischen Perspektive des Pädagogischen

Dagegen hat Freud mit dem Triebbegriff immer an der Natur als einem Stück Unverfügbarkeit im Menschen festgehalten, woraus einerseits seine pessimistisch-bescheidene Hoffnung auf das Vermögen von Erziehung, Vernunft und Zivilisation und andererseits die Reflexion auf jene Kraft, die sich im Innern des Individuums gegen die Zumutungen der äusseren Zurichtung wehrt, folgten. Der Widerstand des Es bedeutet daher in der Psychoanalyse zweierlei: Einerseits gegen eine dem Unbewussten unliebsamen Angriff auf mit viel Aufwand verdrängte Stoffe, andererseits die bedürftige Natur, die sich zur Wehr setzt, dort, wo die Bedürftigkeit zerschlagen werden soll. Anders gesagt: Das ES wehrt sich in beiden Fällen gegen die janusköpfige Vernunft, die aufklärt und zerschlägt. Das freudsche ES ist das Objekt, an dem sich die Dialektik der Aufklärung über sich selber aufklären kann. … Die Unfähigkeit, Abweichung und Widersprüchlichkeit in sozialen Beziehungen zu denken, ist in psychologischen Deutungssystemen regelmässig dort zu besichtigen, wo die Triebtheorie abgelehnt wird. Und angesichts von Abweichung droht die idealisiert-harmonische Anthropologie regelmässig ins Schwarze zu kippen. So zu beobachten schon früh beim ehemaligen Freudschüler Alfred Adler, der mit seiner Individualpsychologie, die ja eine beliebte Gemeinschaftspsychologie ist und gerade im pädagogischen Milieu zum Teil bis heute einen guten Ruf geniesst. Adler, der Freud ob seines abwertenden Menschenbildes kritisiert, schreibt: «Neurotiker, Psychotiker, Verbrecher, Alkoholiker, schwer erziehbare Kinder, Selbstmörder, Perverse und Prostituierte sind Versager, weil es ihnen an Gemeinschaftsgefühl fehlt.» Dagegen geniessen die Neurotiker bei Freud ja geradezu einen exzellenten Ruf: «Die Neurose ist eine Krankheit – eine medizinische Angelegenheit, – doch ist sie auch eine Angelegenheit der Zivilisation – eine moralische Angelegenheit – die eigenartige Quelle der Energie der modernen Menschen. Schon Breuer wies auf die Lebendigkeit, die Neugierde und die Intelligenz der Hysteriker hin. Die Neurose ist der Preis dafür. Sie ist somit eine Erfahrung, aus der wir etwas lernen können. Die Neurose ist für Freud zugleich Fehler und Bedingung der Zivilisation.», so Alain Ehrenberg über Freuds Verhältnis zur Neurose.

Klaus Thörner: Zeugnisse ›jüdischer Caféhausliteraten‹ in der bayrischen Revolution

Ähnlich wie Rosa Luxemburg setzte Eisner im Gegensatz zu vielen Revolutionären auf eine Verbindung des Rätegedankens mit einer parlamentarischen Demokratie. Trotz des moderaten Kurses sah er sich mit Beginn seiner Regierung einer kontinuierlichen antisemitischen Hetze von Konterrevolutionären ausgesetzt. Er wurde als galizischer Jude denunziert, der eigentlich Salomon Kosmanowsky heiße und unwürdig für den Posten des Ministerpräsidenten sei. Im Bayrischen Kurier, dem Presseorgan der Bayrischen Volkspartei kolportierte man, in den Büros der neuen Gewalt wimmele es von Jüdinnen und Juden. Bereits am 8. November 1918 notierte er im Tagebuch: »München wie Bayern, regiert von jüdischen Literaten. Wie lange wird es sich das gefallen lassen?« Besonderen Hass zog Eisner bei Rechten, die die Dolchstoßlegende propagierten, auf sich; wegen seiner Anerkennung der deutschen Schuld am Weltkrieg. Der bescheiden im kleinbürgerlichen Vorort Großhadern lebende USPD-Politiker war für viele »ein preußischer Rothschild und ein bayrischer Trotzki in einer Person«. Adolf Hitler, der zu dieser Zeit in München lebte, resümierte ein paar Jahre später in Mein Kampf: »Jedenfalls begann im Winter 1918/19 so etwas wie Antisemitismus langsam Wurzel zu fassen.«

Lukas Kurth: Die Nassrasur als inneres Erlebnis. Sinnlichkeitsdenken und Gemeinschaftssehnsucht in Simon Strauß’ Prosa

Doch auch wenn Strauß es gerne hätte, lässt sich heutzutage ebenso wenig mit einem metaphysisch grundierten Gestus schreiben, ohne in plumpen Ästhetizismus und damit letztlich in Kitsch zu verfallen wie zu Zeiten seines literarischen Vorbilds Jünger. Während etwa in dessen Frühwerk die sprachlichen Naturalisierungen der als eine ebensolche Naturgewalt erlebten Kriegsgeschehen des Ersten Weltkriegs als ästhetisierender Reflex auf »die Sprachlosigkeit des Frontsoldaten angesichts der Inkommensurabilität des Krieges«, auf die subjektive Überwältigung durch die als naturhaft wahrgenommene schiere Übermacht eines in dieser Form noch nie Dagewesenen zu kritisieren sind, besitzen Strauß’ sprachliche Konstruktionen, mit denen er Alltagsbanalitäten wie Fleisch essen oder Rasieren zu existenziellen Erfahrungen zu stilisieren versucht, unweigerlich einen faden (wenn auch im Vergleich zu Jünger ungleich harmloseren) Beigeschmack von Kitsch. Die Entzauberung der Welt, vor der Jünger warnte, ist bereits so unwiederbringlich und vollumfänglich geschehen, dass jeder Versuch ihrer Wiederverzauberung durch Mystifizierung des Profanen in einer von Magie beseelten Sprache notwendigerweise genauso zum Scheitern verurteilt ist, wie des Protagonisten Suche nach sinnlicher Gewissheit. Die hieraus entspringende Angst, die Strauß’ Erzähler umtreibt, ist von der Jüngers daher grundlegend verschieden, wenngleich auch am Ende das selbe Resultat steht: Unwahrheit und Kitsch in Form und Sprache.

Horst Kurnitzky im Gespräch mit Klaus Heinrich: Sog

Genau an dieser Stelle setzt – und das macht die Sache jetzt außerordentlich gefährlich – nicht etwa die Analyse ein: wie erkläre ich dieses Grauen, woher rührt es, wie komme ich an das heran, was es erzeugt? Sondern umgekehrt, hier, genau an dieser Stelle, setzt die Faszination ein: dieses Grauen bekommt eine Sogwirkung wie nur je irgendeine Bewegung, die mich als Subjekt in sich aufgehen läßt und mir damit plötzlich die Faszination zeigt, subjektlos zu werden, indem sie mir die Subjektlast abnimmt. Dieses Grauen arbeitet mit Versatzstücken der uralten Geschlechtermythologie, was ebenfalls alle einschlägigen Filme und Horrorgeschichten lehren, und dieses Grauen geht über die Stellen, an denen es direkt zubereitet wird, hinaus in eine allgemeine, die Gesellschaft unserer –westlichen – Welt öffentlich überdeckende Katastrophenfaszination. Das zeigt sich in der Verwandlung des Lebens in Ereignisketten, in der Massenpresse, die eine Katastrophenberichterstattung ist, aber nicht Berichterstattung, sondern eigentlich Evokation bedeutet, bis hin zu einer dieses alles als halb mythologisch, halb ontologisch legitimierenden Ereignisphilosophie.

Da sehe ich die große Gefahr. Nicht in der Wiederaufwärmung, sondern darin, daß das nicht eigentlich Wiederaufwärmbare – weil es eine andere Qualität der Bedrohung ist, der man sich in dieser Mythen-Wiederaneignung nicht stellt – eben nicht diesen widerspruchsvoll-mythologischen Charakter behält, sondern als faszinierendes, als lustbereitendes, als sozusagen großes mythologisches Speisesakrament genossen wird. Das ist der Punkt, an dem ich finde, daß es für eine Aufklärung heute wichtig ist, sich über Mythenfaszination zu unterhalten.

Manfred Dahlmann: Der Wert und die Ideale: (Un-)Moralische Perspektiven

Meine Frage an Michael Heinrich, der mit diesem biologistischen Unfug der Übertragung eindeutig ökonomischer Kategorien in die Natur zugegebenermaßen nichts zu tun hat, aber lautet: Was wird aus der in der Form der Darstellung enthaltenen Kritik, wenn der Kapitalismus seine Subjekte in einer Weise konstituiert, die jeden Einspruch des Subjekts gegen was auch immer – und sei es die klassische Logik, der gemäß dort, wo A sei, nicht auch und zugleich Nicht-A sein könne –, die Subjekte also in einer Weise konstituiert, die alles, was zu einem Willen nach Überwindung als falsch oder schlecht erkannter Verhältnisse führen könnte, in ein Verfahren transformiert, das nichts anderes dynamisiert und am Leben erhält als eben den Prozess kapitalistischer Verwertung des Werts? Unterstellt, diese Frage wäre mit ja zu beantworten, dann ist das Schicksal solcherart Kritik durch Darstellung besiegelt: ungewollt, aber mit Notwendigkeit affirmiert sie den Kapitalismus.

Till Gathmann: Zu einer frühen Logik aus Etwas

Die Kosmologie des Anaxagoras, die erste Genesis und der heliopolische Schöpfungsgedanke bilden die Konstellation, an welcher das Denken einer frühen Logik aus Etwas zu demonstrieren wäre. Sie zeichnet die Geburt der Vernunft aus der Kritik des Mythos nach, einer Vernunft, die nicht allein sich aus der Vermittlung des Subjekts in die Gesellschaft hinein speist, sondern diese in Reflexion auf die Objektivität ihrer Genese aus den Naturverhältnissen begreift. Die ideologiekritische Bestimmung, Natur sei weder gut noch böse, ist einzuschränken: Sie droht die Dankbarkeit durchzustreichen, die ihr gebührt, Befriedigung, Glück zu ermöglichen, die Fähigkeit zur Unterscheidung herausgebildet zu haben, die Voraussetzung beider ist. Der Abzug des Guten von der Natur führt in Konsequenz auf den Gleichmut, der die Kapitulation vor der Möglichkeit wahren Fortschritts indiziert oder die tabula rasa totalitärer Umerziehung des willkürlich formbaren Menschenmaterials ankündigt.

Gerhard Scheit: Retter des Seins oder Heros des Überlebens. Über Mythos, Philosophie und Polis bei Martin Heidegger und Klaus Heinrich – mit einem Exkurs zu Ulrich Enderwitz’ Reichtum und Religion

Heidegger deutet Homers Odysseus nicht wie Adorno und Horkheimer als kritisches Paradigma des identischen, zweckgerichteten, männlichen Charakters des Menschen, der seine Triebe, die Natur und die anderen Menschen beherrscht und überlistet, um sich selbst zu erhalten, sondern als den unumwundenen Heros des Seins zum Tode, der das Sein noch nicht vergessen habe und sich deshalb verbergen müsse. So entwirft auch Heidegger ein Paradigma, aber als Vorbild für das Subjekt, das sich selbst abschafft. Auch er interpretiert die Odyssee oder die Ilias von der Polis aus, nur dass diese Polis bei ihm als eine Art deutscher Hades entworfen wird. … Nun nimmt aber auch Heidegger etwas vom wirklichen Charakter der Polis insofern wahr, als er das innere Gleichgewicht der gegeneinander gerichtete Kräfte als Notwendigkeit der „Unverborgenheit des Seienden“ darstellt, die sozusagen zusammen mit dem Sein im modernen Staat, der das Gewaltmonopol aufgerichtet hat, vergessen sei. … Darum wäre es vollkommen falsch, die Polis mit den Begriffen des neuzeitlichen Staatsdenkens zu bestimmen, denn der Polis sei das Wesen der Macht fremd, sodass auch die Kennzeichnung der Macht als »böse« hier keinen Boden habe. »Das im neuzeitlichen Staatsdenken gemeinte Wesen der Macht gründet auf der metaphysischen Voraussetzung, daß sich das Wesen der Wahrheit zur Gewißheit und d. h. zur Selbstgewißheit des sich auf sich selbst stellenden Menschenwesens gewandelt hat, und daß diese auf der Subjektivität des Bewußtseins beruht. Kein moderner Begriff ›des Politischen‹ reicht zu, um das Wesen der Polis zu fassen.«  Aber der Nationalsozialismus reicht zu.

Robert Minder: Heidegger und Hebel oder die Sprache von Meßkirch (1. Teil)

Quelle, Kraftquelle, Jungbrunnen: das ist ein Grundbegriff dieses Stils und bildet gewissermaßen das männliche Gegenstück zum andern Grundbegriff der Wurzel, des weiblich-passiv mit dem Boden Verflochtenen, jener »Einwurzelung«, die Heidegger am Nazismus nicht laut genug rühmen konnte: »Es gibt nur einen einzigen deutschen Lebensstand. Das ist der in den tragenden Grund des Volkes gewurzelte und in den geschichtlichen Willen des Staates freigefügte Arbeitsstand ... Die erste Bindung ist die in die Volksgemeinschaft. Diese Bindung wird festgemacht und in das studentische Dasein eingewurzelt durch den Arbeitsdienst.«

Aljoscha Bijlsma: »Genug des Schollenzaubers«. Robert Minders Heidegger-Kritik

Dichter in der Gesellschaft – das Werk des französischen Germanisten Robert Minder (1902 – 1980) kreist um die unscheinbare Präposition des Titels jenes Bands, in dem auch seine Heidegger-Kritik erstmals erschien. Minder fragt in seinen ab 1962 in verschiedenen Kompilationen erschienenen Essays danach, ob und inwiefern der Dichter in der Gesellschaft oder vielmehr neben dieser existiert; ob der Dichter »eingebürgert« ist oder sich, mangels der Möglichkeit solcher Einbürgerung, sein »inneres Reich« erschafft. Sehr »allgemein – zu allgemein – dürfte man vielleicht sagen: in Deutschland ist der Dichter, der Künstler in erster Linie Bürger einer anderen Welt; in Frankreich ist er in weit größerem Ausmaß citoyen«.

Georges-Arthur Goldschmidt: Arbeit und Nationalsozialismus

1933, das heißt, einige Zeit bevor der Arbeitsdienst verpflichtend wurde, schrieb Heidegger einen Text mit dem Titel Arbeitsdienst und Universität, der in der Freiburger Studentenzeitung am 20. Juni 1933 erschien: »Künftig wird die Schule nicht mehr den ausschließlichen Rang in der Erziehung einnehmen. Eine neue und entscheidende Erziehungsmacht ist mit dem Arbeitsdienst aufgestanden. Das Arbeitslager rückt neben das Elternhaus, den Jugendbund, den Wehrdienst und die Schule. Im Arbeitslager verwirklicht sich die Stätte einer neuen unmittelbaren Offenbarung der Volksgemeinschaft. Der junge Deutsche bleibt künftig beherrscht vom Wissen um die Arbeit, in der sich die Kraft des Volkes sammelt … Das Arbeitslager ist zugleich ein echtes Schulungslager für das Führertum in allen Ständen und Berufen.« Einige Zeilen weiter benennt er das Arbeitslager als Erziehungsstätte und ergänzt: »Im Arbeitslager steht eine neue Wirklichkeit da.« Es ist für ihn ein »Sinnbild dafür, daß unsere hohe Schule der neuen Wirklichkeit des Arbeitsdienstes sich öffnet.« Es ist bedauerlich, dass Jean Beaufret, der die Äußerungen Heideggers sehr aufmerksam sammelte, eben diese nicht hinzufügte.

David Hellbrück / Gerhard Scheit: Eine Anmerkung zu Arbeit und Nationalsozialismus von Georges-Arthur Goldschmidt

Mit dem Text, der 1973 in der französischen Zeitschrift Allemagnes d’Aujourd’hui erschienen ist und hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung publiziert wird, liegt eine der ersten Interventionen George-Arthur Goldschmidts gegen die unkritische Heidegger-Rezeption in Frankreich vor, zahlreiche weitere aus seiner Feder sollten folgen (siehe hierzu die Beiträge von Goldschmidt in sans phrase 6/2015, 7/2015 und 11/2017). Nur auf den ersten Blick geht es dabei ausschließlich um den Nachweis von Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus, der allerdings gerade damals keineswegs unwichtig war. Denn nicht nur deshalb, weil dieser Nachweis notwendig ein besonderes Augenmerk auf Heideggers Zeit als Freiburger Rektor legt, steht die thematische Konzentration auf die deutsche Ideologie der Arbeit im Mittelpunkt, die in diesen Jahren – da die anderen Arbeiterparteien sowie die freien Gewerkschaften eliminiert wurden – eine besondere Rolle in der Propaganda spielte. Zusammen mit dem nachdrücklichen Hinweis auf die Sprache Heideggers hat Goldschmidt damit das Deckbild für den Vernichtungswahn erfasst, den vier Jahrzehnte später erst die Publikation der Schwarzen Hefte zutage fördern sollte.

Marc Sagnol: Claude Lanzmann: Geheimadept Walter Benjamins

Die Vergleiche zwischen Lanzmanns Werk und Benjamins Überlegungen hören dort jedoch noch nicht auf. Claude Lanzmanns Shoah ist, wie jeder weiß und oft schon bemerkt worden ist, kein bloßer »Dokumentarfilm«. Es ist ein epischer Film. Er erzählt ein Epos, allerdings ein negatives, nämlich das der Vernichtung, ein Epos des Todes in dem Sinne, in dem die Ilias und vor allem die Odyssee ein Epos des Lebens darstellen. … Das Epos aber gründet, wie Benjamin sagt, auf der Ausschöpfung des Gedächtnisses: »Das Gedächtnis ist das epische Vermögen vor allen anderen. Nur dank eines umfassenden Gedächtnisses kann die Epik einerseits den Lauf der Dinge sich zu eigen, andererseits mit deren Hinschwinden, mit der Gewalt des Todes ihren Frieden machen.«

David Hellbrück / Gerhard Scheit: »Nur auf den Akt des Überlieferns kommt es an: Ihm geht keine Verstehbarkeit voraus«. Diskussion zu Claude Lanzmann und Walter Benjamin – anlässlich Marc Sagnols Claude Lanzmann: Geheimadept Walter Benjamins

David Hellbrück: Das heißt zunächst … Shoah nicht nur – so wichtig es ist – auf den kulturindustriell verarbeiteten Vergangenheitsbewältigungskitsch zu beziehen, deren Aussöhnung er sich ohnehin schon verbietet, sondern auf sein Werk selbst – insbesondere auf diejenigen Filme, deren Stoff sich nicht aus den Dreharbeiten von Shoah ergaben: auf Pourquoi Israël (1973) und Tsahal (1994), werden dort – was die Linke insgeheim schon immer störte und die postnazistische Gesellschaft ohnehin beiseiteschob – die Juden nicht als Opfer präsentiert, sondern als jene, die sich die notwendige staatliche Gewalt aneigneten, um sich ganz nüchtern gegen den Antisemitismus qua zionistischer Kraftanstrengung zur Wehr zu setzen. Doch auch hier gibt es noch Unterschiede: während Pourquoi Israël noch den Aufbau Israels zeigt, in den Bannkreis des antikolonialen Befreiungskampfs gehört, eine Kritik an Jean-Paul Sartre ist (bei dem Lanzmann nicht bloß in die Schule ging, sondern von dem er sich, nebenbei bemerkt, glücklicherweise auch wieder abgestoßen hat), gewissermaßen also ein Film für die Linke Frankreichs ist, der ihr zeigen soll, dass der antikolonialistische Kampf nicht notwendig antizionistisch sein muss, braucht Tsahal auf diese Fragen keine Antwort mehr formulieren … Lanzmann, ein glänzender Zuschauer seiner Filme, schreibt über Tsahal: Der Film handelt von der »erneuten Wiederaneignung von Gewalt durch die Juden. Die Juden Europas waren zum Untergang verurteilt, weil sie über keinen politischen Status und keinen nationalen Staat verfügen. Sie waren überflüssig geworden, lebende Tote. In einer Welt, die sich aus Nationalstaaten zusammensetzt und in der nur der Staat Schutz bieten kann, hatten sie keine Chance …“

Ljiljana Radonić: 30 Jahre Kroatienkrieg. Drei Annäherungen

Während wir also den Keller einrichteten, kamen meine schwangere Tante und mein kleiner Cousin aus Nova Gradiška zu uns nach Zagreb, weil bei ihnen zuhause schon Krieg war. Ich schrieb in mein Tagebuch, auf Kroatisch natürlich: »4. 9. 1991: In Kroatien ist jetzt Krieg. Meine Oma ist in Vinkovci, sie geht oft in den Keller. … Die Schule hätte am 2. 9. beginnen sollen, aber das wurde auf den 9. 9. verschoben. … Es ist sehr schwer, aber was soll man machen. Ich bin nicht mehr so verrückt nach Aco, obwohl er mir immer noch gefällt. Jetzt habe ich ein wichtigeres Problem.«

Kay Schweigmann-Greve / Hendrik Wallat: Judentum und Sozialismus im Werk von Aaron Steinberg

Ein Vergleich von Steinberg und Heidegger demonstriert jedoch gerade, was eine emanzipatorische von einer reaktionären Kritik an der Moderne (beziehungsweise des Bolschewismus) unterscheidet. Zielt diese auf den antisemitisch verachteten Fortschritt als solchem, der abgelehnt wird, weil der Mensch sich aus der Enge von Blut und Boden emanzipiert, so fokussiert jene dessen Blindheit gegenüber dem Bedürfnis des Menschen: die Reproduktion von Herrschaft durch absolute Naturbeherrschung, die vom unterjochten Material auf den Menschen selbst gnadenlos zurückschlägt. Mensch wie Natur lösen sich der Herrschaft in vermeintlich beliebig manipulierbare und verfügbare Quantitäten auf. Dass der Krieg gegen die Natur und die Wiedergeburt des neuen Menschen als gottgleichem Schöpfer das innere Wesen des Bolschewismus als Weltanschauung ausmachen, hat dementsprechend Aaron Steinberg auf den Punkt gebracht, ohne, wie Heidegger, daraus reaktionäre Schlüsse zu ziehen.

Aaron Steinberg: Die Weltanschauung des Bolschewismus

Als eine geoffenbarte Weltanschauung, die sowohl der Kontrolle einer allgemeingültigen Vernunft, als auch der des persönlichen Bewußtseins entbehrt, ist der Bolschewismus auf Leben und Tod mit dem Wunder der erleuchteten Persönlichkeit verbunden. Wer soll der Statthalter Lenins werden? Diese Frage, die scheinbar nichts als eine politische Tagesfrage des heutigen Rußlands ist, ist aber in Wirklichkeit für den Bolschewismus eine Frage der Weltanschauung. Man sucht sie dadurch zu lösen, daß man ein neues Prinzip der berufenen Jüngerschaft proklamiert. Und wiederum wird es klar, daß mit dem Bolschewismus der westeuropäische Sozialismus tatsächlich in ein ganz neues Entwicklungsstadium eingetreten ist: in das Stadium einer ihrem letzten Sinne nach ganz eigenartigen und noch durchaus nicht abgeklärten religiösen Bewegung.

Ob dem »neuen Islam« auch ein langes Leben beschieden ist? Das Leben selbst soll die Antwort erteilen.

Izchak Pschetitski: Der 1. Mai im weiten Ural

Auf dem Weg zu ihren Behausungen kam Lifschitz ein Gedanke, den er sofort zu realisieren begann. »Jungs«, wandte er sich an die anderen polnischen Juden, die im selben Fahrzeug wohnten, »morgen ist der 1. Mai, morgen arbeitet man nicht.«

»Was soll das heißen?«, stammelte Berl erschrocken, während er seinen Bissen Brot hinunterschluckte, »man kann uns als Konterrevolutionäre arrestieren …« »Der 1. Mai ist ein sozialistischer Feiertag«, belehrte ihn Lifschitz, »und der Bauleiter hat gesagt, wir leben in einem sozialistischen Land. Da haben wir das Recht, unseren Arbeiterfeiertag zu feiern!«

Die Mehrheit beschloss, morgen nicht zur Arbeit zu gehen, komme, was wolle.