sans phrase - Zeitschrift für Ideologiekritik

Erinnerung an Luigi Nono

Klaus Heinrich | Parataxis | Heft 16, Sommer 2020

Er machte nicht mit Hilfe der Schönbergschen Entdeckungen eine aufklärerische Musik, die die Massen in Bewegung setzen sollte, sondern vertraute darauf, daß in seiner Musik – ich werde gleich versuchen, es zu erläutern an zwei Stücken, die ich für sein Vermächtnis halte – Aufklärung als etwas erfahren wird, was als Fünkchen in den Massen und der ihnen entsprechenden Tonmasse selber steckt. Nicht sie durch die Kompositionen hindurchlaufen lassen, sondern sie so zu rekonstruieren, und zwar nicht nur mit instrumentalen, sondern immer auch mit vokalen und elektronischen Mitteln der, zunächst so gesagt: Verzerrung des Vokalen und des Instrumentalen, daß die Funken herausspringen. Die Intention ist es, diesen Funken das Herausspringen möglich zu machen. Zu gleicher Zeit bedeutet das aber, daß die Massen nicht in Marsch gesetzt werden, sondern daß sie erst einmal in Denkbewegung gesetzt werden sollen, ohne die jede Art von Marsch sinnlos wäre. Also eine Anti-Massenpropaganda­-Musik, und damit direkt hineingegangen in Fabriken, in Organisationen; also Nono, von Anfang an Mitglied der italienischen KP, sich als Revolutionär verstehend und zu gleicher Zeit realisierend, daß er dort niemals im Zentrum stand, aber für sich reklamierend, daß das, wo er stand, eigentlich das Zentrum sei. Eine Form der Überbietung, die nichts zu tun hat mit den Überbietungen, von denen wir hier in der kolloquialen Heidegger-Vorlesung sprechen. Sie hat nämlich nichts zu tun damit, daß das ‚Man‘ beiseite geschoben würde, um einem eigentlichen Selbstsein, einem vom Sein selbst bestimmten, zum Durchbruch zu verhelfen, sondern im Gegenteil: nichts jemals kann durchbrechen, nirgends können Funken fliegen, wenn es nicht die sind in dem ‚Man‘ selbst, um diese Denkfigur, diese Sprachfigur zu Ende zu führen.