sans phrase - Zeitschrift für Ideologiekritik

Rechtspositivismus und politische Theologie im jüdischen Staat. Zum Konflikt über die Justizreform in Israel mit einem Nachtrag zum 7. Oktober

Gerhard Scheit | Essay | Heft 23, Winter 2024

Wenn in Politik und Öffentlichkeit der postnazistischen Welt direkt oder indirekt die Annahme als Gewissheit ausgegeben wird, dass Demokratie und Völkerrecht wie geschaffen seien, eine Wiederholung von Auschwitz zu verhindern, handelt es sich sozusagen um einen hypothetischen Imperativ nach Auschwitz – also einen Imperativ nach dem Muster: Wenn du Y willst, tue H!, der etwa auch lauten könnte: Si vis pacem, para bellum (Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor). Beim kategorischen und praktischen Imperativ hingegen wird übers Hypothetische gerade hinausgegangen, indem Mittel und Zweck in einem wie auch immer kausal vorgestellten Zusammenhang nicht voneinander getrennt zu denken sind: negativ beim kategorischen, wie ihn Adorno formulierte, dadurch, dass vom Mittel überhaupt nicht gesprochen wird; positiv beim praktischen, wie er erst noch zu formulieren wäre, darin, dass es in Gestalt des jüdischen Staats mit dem Zweck wirklich zusammenfällt: Geschaffen, jedem weiteren Versuch in irgendeinem Staat auf der Welt der Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung vorzubeugen und entgegenzuwirken, ist er selbst bereits als dieser Zweck anzuerkennen. Denn wenn beim praktischen Imperativ von Kant die »Idee der Menschheit« der »Zweck an sich selbst« ist – praktisch darin, dass er den Formalismus in der Maxime des kategorischen transzendiert – hat »Hitler … den Menschen im Stande der Unfreiheit«, der nun einmal in der Existenz von Staaten (als notwendiger Bedingung des Kapitalverhältnisses) begründet liegt, auch einen neuen praktischen Imperativ aufgezwungen, der auf die Mittel-Zweck-Relation zielt, wovon der kategorische schweigt: nämlich den Staat derer als Zweck an sich selbst zu bestimmen, welche aus jener Idee der Menschheit (durch die »pathischen Projektionen« einer allgegenwärtigen »verfolgenden Unschuld«, die partout in ihnen die »abstrakte Dimension« des Kapitals verkörpert sehen will) nicht nur ausgeschlossen, sondern mit diesem Ausschluss praktisch und vollständig vernichtet werden sollten. Der antizionistische Hass fordert im Sinne negativer Urteilskraft eben darin den Superlativ heraus: Nicht nur handelt es sich um die zeitgemäß geschärfteste Form des Antisemitismus, er gibt zugleich den politischen Geltungsgrund dieser (um es einmal nicht in den Begriffen der Psychoanalyse oder der politischen Ökonomie auszudrücken) größten und wirkungsmächtigsten Lüge der sogenannten Menschheit am reinsten zu erkennen: die Juden dürfen keinen eigenen Staat haben, weil sie zum Zweck ihrer Vernichtung jederzeit frei verfügbar sein sollen, wo, wie und wann immer Kapitalverhältnis und Weltmarkt auseinanderzubrechen drohen.